Eisnattern: Ein Hamburg-Krimi (German Edition)
aufeinander. Der Inceman schüttelt den Kopf und streicht sich die Haare aus dem Gesicht. Der Schulle sagt: »Verdammte Scheiße.«
»Ist er das?«, frage ich leise.
Der Calabretta sieht mich an. Ich weiß, dass ich gar nicht mehr hätte fragen müssen. Ist mir so rausgerutscht. Natürlich ist er das.
»Seht euch den Mund an«, sagt der Brückner. »Was haben die mit seinem Mund gemacht?«
»Zugenäht«, sagt der Calabretta. »Der Mund ist zugenäht worden.«
Die Naht ist gewaltig, sie geht von einer Wange zur anderen. Ein Zickzackstich aus braunem Band, wird vermutlich Leder sein.
»Zum Teufel mit dem verfluchten Albaner«, sagt der Schulle, und das ist es, was wir alle denken.
»Holen wir ihn runter«, sagt der Calabretta. »Er soll da nicht so hängen.«
Der Schulle zückt ein Messer, der Calabretta geht zu dem toten Mann und kniet sich davor, für einen Moment sieht es so aus, als wolle er beten. Der Schulle steigt auf seine Schultern, der Calabretta stellt sich wieder auf die Füße, schwankt ein bisschen, der Inceman kommt ihm zu Hilfe und hält ihn an den Schultern fest. Gemeinsam balancieren sie den Schulle aus, und der fängt an, an dem Tau zu säbeln, das den Mann sein Leben gekostet hat. Es dauert. Lange, klebrig lange fünf Minuten. Als das Tau durch ist, fangen der Brückner und ich den Mann auf und lassen ihn auf den Boden gleiten. Er ist groß, bestimmt eins neunzig. Seine hellbraunen Haare sind lockig und für einen Polizisten einen Tick zu lang. Seine Haut ist feinporig und sauber, seine Wimpern sind relativ hell, seine Nase ist lang und schmal. Er sieht nicht aus wie ein Verbrecher. Wäre ich der Albaner, ich hätte mir’s auch gedacht. Ich versuche, nicht auf seinen Mund zu kucken.
Seine Schultern sind breit und kräftig, er muss stark gewesen sein. Und er war keine dreißig Jahre alt. Der Calabretta zieht seine Jacke aus und legt sie dem Mann unter den Kopf. Dabei streicht er ihm vorsichtig die Haare aus der Stirn. Er macht sich Vorwürfe, und ich kann es ihm nicht verdenken.
»Gehen wir«, sagt er.
Er steht auf und verlässt mit großen Schritten den Dachboden, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her. Dieser Beruf schlägt einem mit der Zeit Wunden, die sind so tief wie der Grand Canyon. Ich muss kurz an Kriminalmeister Tschauner denken und wünsche mir, dass er noch ein bisschen Zeit hat.
Der Inceman geht wortlos an mir vorbei nach unten. Er kuckt mich nicht mal an.
Jetzt hab ich dann wohl, was ich wollte.
*
Der Albaner kam Anfang der neunziger Jahre nach Hamburg, ein eleganter junger Mann aus Tirana. Die Familie hatte nicht viel Geld, aber die Eltern waren kultiviert und gebildet. Sie gaben ihrem Sohn alles mit auf den Weg, was er brauchte, um in einer westeuropäischen Großstadt bestehen zu können: Fremdsprachen, Cleverness und die Fähigkeit, sich in jeder Umgebung zu bewegen. Und der Sohn lernte schnell noch mehr dazu. Er lernte, das Glück zu verbiegen. Er fing im Casino an. Trug helle, gut geschnittene Anzüge und war geschickt beim Black Jack, dann klappte es auch beim Roulette. Er war zu allen freundlich und versprühte weltmännischen Charme. Er war ein gerngesehener Gast an Hamburger Zockertischen, sowohl in den verqualmten Hinterzimmern als auch in Sankt Paulis glitzernder Spielbank. Mit seinen ersten großen Gewinnen von jeweils über hunderttausend Euro legte er den Grund für seine spätere Lieblingseinnahmequelle: Immobilien.
Und dann kamen ein paar seiner Landsleute aus dem Kosovo an die Elbe und erledigten für ihn die Drecksarbeit. Sie drehten den Kiez einmal auf links. Nachdem die Albaner mit Sankt Pauli durch waren, stand in der Verbrechensmachtstruktur kein Stein mehr auf dem anderen. Sie schafften das, was vor ihnen schon die Jugoslawen und die Russen versucht hatten und gescheitert waren. Sie brachen die Hamburger Luden in kleine, handliche Stückchen. Denn die Albaner scherten sich einfach nicht um die eisernen Gangstergesetze. Sie pfiffen auf Ehre und so einen Scheiß. Sie brachen mit einer Schnelligkeit und Skrupellosigkeit übers Milieu herein, die neu war. Sie schossen sofort. Sie schossen von hinten. Sie demütigten Frauen. Sie drückten Hände auf Herdplatten. Sie zertrümmerten Türsteherknie mit Baseballschlägern. Sie taten all das, was man auf dem Kiez bisher nicht getan hatte. Als die Hamburger Ganoven das endlich geschnallt hatten, war es zu spät. Alles, was Geld und Ansehen brachte, war ab Mitte der neunziger Jahre in albanischer Hand.
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