Eisprinzessin
Zentrifugalkraft sie nach außen ziehen will, aber das Eis sie hält. Dann stört kein Holpern ihr Gleiten. Tanja kann ihr nicht das Wasser reichen. Sicher, sie ist talentiert, aber viel zu faul. Immer gibt es irgendwas, das sie ablenkt. Die Pferde, das Theaterspielen und jetzt auch noch die Jungs, die sie nervös machen. Nein, Tanja hat nicht die Disziplin und den Fleiß, um eine echte Eisprinzessin zu werden. Talent allein ist so gut wie nichts wert.
Der Gummiboden unter ihren Kufen gibt bei jedem Schritt nach. Sie stellt sich dabei immer vor, sie ginge über ein Moor. Und dann ist er endlich da, taucht zwischen Weiden und Birken auf, nebelverhangen, ein glatter Spiegel, über dem der blasse Mond hängt und Sterne funkeln und auf dessen Fläche sie gleich ihre Spuren hinterlassen wird.
Mit einem Sprung ist sie auf dem Eis. Sie dreht sich um hundertachtzig Grad, holt weit mit den Beinen aus, um Fahrt aufzunehmen, setzt in die Kurve über, um noch mehr zu beschleunigen, dann der Sprung. Ein Doppellutz. Sie schließt die Augen und spürt, wie sie fliegt. Aber es braucht noch nicht einmal Sprünge, auch auf den Kufen kann sie fliegen, wie früher auf dem Eis des Künettegrabens, wenn er nach ein paar Tagen mit eisigem Ostwind zugefroren war und keine Schneeflocke das spiegelglatte Eis stumpf werden ließ.
»Nein, nein, ich passe schon auf, ich laufe nur dort, wo die anderen laufen.«
Aber mit den anderen, die auf dem Eis dahinstolpern, nein, mit denen will sie nicht laufen, nur weg, ganz schnell hinaus aufs Spiegeleis. Dort, wo es dünn ist, dort, wo die Stolperer und Stürzer nicht fahren können, weil die dünne Eisschicht brechen und sie verschlucken würde. Dort, wo man immer in Bewegung sein muss, um nicht einzubrechen. Wo das Eis zu ihr spricht. Es jammert oder klirrt, manchmal ächzt es auch bedrohlich. Dort fliegt Charlotte übers Eis, und der Wind hilft ihr, der eisige Wind, der über das gefrorene Wasser fegt. Sie breitet die Arme aus und lässt sich treiben, beschleunigt und hört, wie hinter ihr die Risse durch das Eis wachsen. Ein Sprung und weiter, ein eisiger Stern dort, wo sie gelandet ist. Ja, das ist Fliegen, Eisfliegen, genauso schön wie das Klatschen und die Bravorufe Hunderter Zuschauer, die ihr auf spiegelndem Eis in der Halle nach einem perfekten Sprung entgegenbranden.
* * *
»Und, sind wir jetzt gescheiter?«, fragte Brunner, als sie ins Präsidium zurückkamen.
»Die Angehörigen machen sich noch nicht allzu viele Sorgen«, sagte Marlu.
»Nur ihr Mann tickt total aus, sag ich doch«, sagte Brunner.
»Spricht das unbedingt gegen ihn?«, wollte Meißner wissen.
»Ich finde schon«, sagte Brunner. »Ich meine, die Frau ist schließlich erwachsen.«
»Die Kliniken in der Umgebung habe ich gestern durchtelefoniert«, sagte Marlu. »Trotzdem haben wir vorsorglich eine Personenbeschreibung und eine Beschreibung des Fahrrads an die Kollegen von der Streife durchgegeben.«
»In ihrem Jugendzimmer im Elternhaus in Wettstetten ist mir nichts Besonderes aufgefallen. Keine Spur. Auch in der Sprachenschule nicht. Der Schreibtisch von Charlotte Helmer steht im Eingangsbereich, also in keinem abgeschlossenen Raum. Wir haben dort nichts Persönliches gefunden. Zu ihrem Computer hat auch die Praktikantin Zugang, da werden wir wohl genauso wenig irgendwas Privates finden.«
»Und zu Hause, war da auch nichts?«, fragte Brunner.
»Wenn, dann müsstest du es doch gesehen haben. Du warst ja nach uns noch mal da«, sagte Meißner angesäuert.
»Ich hab nichts gefunden. Ihr Netbook hat sie wahrscheinlich im Rucksack dabei. Wie immer, sagt ihr Mann. Was ist eigentlich mit einer Handy-Ortung?«, fragte Brunner.
»Dafür brauchen wir eine richterliche Anordnung, aber die kriegen wir nicht.«
»Für eine stille SMS nicht unbedingt«, meinte Brunner.
»Wir sind aber nicht der Zoll und auch nicht der Verfassungsschutz. Diese lautlose Schnüffelei, ohne dass der Betroffene merkt, dass er geortet wird, gefällt mir nicht. Ich glaube auch nicht, dass das überhaupt rechtens ist. Charlotte Helmer ist ja keine flüchtige Straftäterin.«
»Mantrailing?«, warf Holler in die Runde, der sich bisher wie üblich bedeckt gehalten hatte.
»Was?« Brunner sah ihn belustigt an. »Fährtensuche? Mit Hunden? Meinst du das?«
»Genau das«, sagte Holler.
»Gibt es denn überhaupt einen Kollegen in unserer Nähe, der dafür ausgebildet ist?«, fragte Meißner.
»Soweit ich weiß, gibt es Experten dafür auch in
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