Eisprinzessin
eine Zahnarztphobie hatten, nahm er nicht mehr automatisch an, dass der betreffende Mensch sich eben keine entsprechende Zahnbehandlung leisten konnte. Diese Frau sah allerdings aus, als hätte sie neben einer Zahnarzt- auch noch eine Friseurphobie.
Was würde jetzt in der Nussbaumstraße passieren? Wie würde Eberl den Anblick seiner toten Frau auf einer kalten Metallbahre verkraften? Würde er sein Geständnis wiederholen? Eigentlich war das von einem Mann zu erwarten, der schon auf dem Weg in die Rechtsmedizin kotzte.
Dr. Kern, der Rechtsmediziner, legte sein Diktiergerät aus der Hand, als er sie kommen sah.
»Ah, der neue Herr Kollege. Ein Raubbayer, wie man mir erzählt hat. Willkommen in der Landeshauptstadt!«
Brunner ignorierte Kerns Smalltalk-Angebot. Vielleicht konnte er mit dem Begriff Raubbayer gar nichts anfangen, oder dieser alte Käse von der Rivalität zwischen Franken und Bayern nervte ihn einfach. Vielleicht ging ihm die Geschichte der Franken, die in napoleonischen Zeiten von Bayern gekapert worden waren, aber auch sonst wo vorbei.
»Ich bin zwar kein Pfarrer, und wir sind auch nicht in einer Kirche«, sagte Kern, »aber dieser Ort hier ist schon etwas Besonderes. Die Verstorbenen machen auf dem Weg zu ihren letzten Ruhestätten hier sozusagen Zwischenstation. Was ich sagen will: Könnte man dem Herrn hier bitte die Handschellen abnehmen? Ich glaube, das ist wirklich nicht nötig.«
»Die Dinger bleiben dran«, bellte Brunner.
Meißner signalisierte dem Kollegen zu tun, worum Kern ihn gebeten hatte. Widerwillig zog Brunner den Schlüssel aus der Tasche und befreite Eberls Hände. Der wusste zunächst gar nicht, wohin damit. Seit sie das Gebäude in der Nussbaumstraße betreten hatten, war er eine weitere Nuance blasser geworden.
»Geht’s?«, fragte Meißner ihn.
Eberl nickte und räusperte sich.
»Na also, dann pack ma’s an.« Kern ging in den Sektionsraum voran, in dem die Tote unter einem weißen Leichentuch auf einer Bahre lag. Die Wärmelampen, die von der Decke hingen, waren ausgeschaltet. Kern schlug das Tuch zurück, und sie blickten in ein schmales Frauengesicht, nicht mehr ganz so jung, wie Meißner es vom Foto her erinnerte. Charlotte war erst siebenundzwanzig gewesen, aber das Einfrieren und Wiederauftauen wirkte wahrscheinlich nicht unbedingt wie eine Frischzellenkur.
Eberl starrte seine Frau an. Meißner konnte keine eindeutige Gefühlsregung erkennen, höchstens Staunen. Obwohl ihn alle anstarrten und auf seine Reaktion warteten, äußerte er sich nicht.
»Und?« Brunner war der Erste, der das Schweigen nicht mehr aushielt. »Ist das Ihre Frau?«
Eberl schüttelte wie in Zeitlupe den Kopf. »Das ist nicht Charlotte«, sagte er und sah sich nach einem Stuhl um. »Das ist sie nicht.«
Kern schob ihm einen Hocker unter die Kniekehlen und blieb hinter ihm stehen.
Brunner schnaubte wie ein Ochse. »Und wer soll es bitte sonst sein?«
»Das weiß ich nicht.« Eberl war in sich zusammengesunken. Die ganze Anspannung war aus seinem Körper gewichen. Er wirkte ausgemergelt und so faltig, als sei ihm seine Haut in den letzten Stunden zu groß geworden. Im Hintergrund klingelte irgendwo ein Telefon. Es klingelte, verstummte, begann erneut zu klingeln.
Brunner lachte höhnisch auf. »Sie glauben doch wohl nicht allen Ernstes, dass Sie mit der Nummer durchkommen?«, rief er. »Wer soll das sonst sein, wenn nicht Ihre Frau?«
»Ich weiß es nicht«, sagte er noch einmal. »Die Frau ist älter als Charlotte.«
»Wir lassen uns von Ihnen doch nicht verarschen!« Brunner war stocksauer.
»Na, na, Herr Kollege, ich muss doch sehr bitten. Sie wecken mir ja noch meine Toten auf mit Ihrem Geschrei«, ermahnte Kern ihn.
Brunner war fuchsteufelswild. Das wiederum schien Kern zu amüsieren. Vielleicht freute er sich auch schon auf die Informationen, die er noch beizutragen hatte. Meißner konnte ihm ansehen, dass er mindestens noch einen Trumpf im Ärmel hatte.
»Und was sagt jetzt der Rechtsmediziner dazu?«, fragte Meißner ihn.
»Ganz einfach«, antwortete Kern. »Ich unterstütze die Aussage von Herrn Eberl – das hab ich eigentlich schon nach der ersten Augenscheinuntersuchung der Leiche getan. Ich frag mich nur, wie es möglich ist, dass so erfahrene Kriminaler, wie ihr welche seid, das nicht gleich bemerkt haben. Diese Frau kann gar nicht die von euch gesuchte Vermisste sein.« Alle spitzten die Ohren.
»Ich gehe bei ihr von einem ziemlich langen postmortalen Intervall
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