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Eisprinzessin

Eisprinzessin

Titel: Eisprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Graf-Riemann
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an. Aus ihrer aktuellen Perspektive, sie standen ganz oben, fielen sie steil ab. Ganz unten war die vergleichsweise kleine Arena der Pathologen, in der sie unter den wachsamen Augen der Studenten dozierten und dabei, wann immer nötig, an einer Leiche herumschnippelten. Frankenstein und Dr. Mabuse. Die Anatomiestunde des Dr. Tulp, gemalt von Rembrandt. Die Bilder standen Meißner wie auf Knopfdruck vor Augen, obwohl da unten weder ein Dr. Tulp mit weißer Halskrause noch sonst eine grausige Gestalt stand, sondern nur eine attraktive dunkelhaarige Redakteurin in Jeans und dunkler Jacke und neben ihr ein Kameramann des Bayerischen Fernsehens, dem das karierte Holzfällerhemd leger aus der Hose hing.
    Es wurde Kerns Veranstaltung. Er erzählte witzig, anschaulich und ein bisschen weit ausholend, wie es seine Art war. Bei den lateinischen Fachausdrücken fragte die Redakteurin, bekennende Neusprachlerin wie Marlu, im Sinne der Zuschauer immer nach, und Kern erklärte ihr alles äußerst charmant. Am Ende sagte die Dame vom Bayerischen Fernsehen, dass er ein so netter und lustiger Mann sei, man könne sich ihn gar nicht bei seiner Arbeit vorstellen. Da habe er ja eigentlich so gar keine Ansprache, weil seine Patienten in der Regel doch stumm und kalt waren. Kern war der nette ältere Herr, der mit Hilfe des berüchtigten Y-Schnitts Leichen öffnete, ihnen die Organe zum Wiegen entnahm und abends daheim im Kreis der Familie Schwammerlsoße oder Hirschgulasch aß. Die Vorstellung war ein bisschen bizarr.
    Meißner gab Auskunft, wenn er gefragt wurde, überließ die Bühne im Übrigen aber dem Rechtsmediziner. Er war medientechnisch in Ingolstadt daheim, bei Radio IN , intv und dem Donaukurier. Kern packte seine großen Fälle aus und plädierte dafür, dass alle Promis obduziert werden sollten, wenn ihr Tod auch nur das kleinste Rätsel aufgab, schon allein, um späteren Verschwörungstheorien das Wasser abzugraben. Und natürlich gab er auch das zum Besten, was er immer sagte, wenn eine Kamera oder ein Mikrofon auf ihn gerichtet war: dass der perfekte Mord immer wahrscheinlicher wurde, und zwar allein aus Spargründen. Denn nur wegen der anfallenden Kosten wurden jedes Jahr weniger Obduktionen von den Staatsanwälten angeordnet.
    Als der Kameramann schon zusammenpackte, Kern aber noch immer erzählte und gestikulierte, zog Meißner sich in die oberen Ränge des Hörsaals zurück und rief Marlu zurück.
    Sie erzählte ihm, dass die KTU die Briefe aus Eberls Keller untersucht und festgestellt hätte, dass weder Papier noch Tinte frisch, also jünger als zehn Jahre alt, waren. Entweder war Charlotte frühreif gewesen und hatte als Fünfzehnjährige eine Liebesbeziehung zu einem wesentlich älteren Mann gehabt, wenn es sich bei ihm um die Person handelte, die auf dem Polaroidfoto abgebildet war, oder die Briefe waren gar nicht an sie gerichtet. Warum aber sollte sie fremde Liebesbriefe in ihrem Keller aufbewahren?
    Marlu hatte die Vermögensverhältnisse von Charlotte Helmer überprüft. »Der Senior hat seine Anteile tatsächlich seinem Sohn übertragen. Es gibt allerdings noch eine weitere Anteilseignerin in der Firma, und sie heißt nicht Charlotte Helmer.«
    Das wusste Meißner bereits, aber Marlu wusste nicht, dass er es wusste.
    »Die Tochter ist da komplett außen vor«, fuhr sie fort. »Als Entschädigung hat sie quasi ein vorzeitiges Erbe ausbezahlt bekommen. Sechshunderttausend.«
    »Euro?«
    »Was glaubst du denn, Schilling?«
    »Und wo ist das Geld?«
    »Vor drei Jahren hat sie damit eine Immobilie gekauft«, sagte Marlu.
    »Die Wohnung in Ingolstadt?«
    »Nein, schon ein bisschen romantischer. Eine alte Ölmühle auf Mallorca, die sie renoviert hat. Das Anwesen ist an einen mallorquinischen Koch vermietet. Er lebt dort mit seiner Familie, kümmert sich um die Ferienwohnungen, die dazugehören, besitzt ein paar Olivenhaine und kocht für seine Gäste. Wir haben schon mit ihm gesprochen beziehungsweise hat das eine Dolmetscherin übernommen. Der Mann kennt Charlotte natürlich, hat sie aber seit dem Frühjahr, also seit über einem halben Jahr, nicht mehr gesehen. Seine Miete zahlt er auf ein Sparkonto ein.«
    »Dann haben wir also ihre Geldquelle gefunden. Haben wir mit der Ölmühle jetzt auch ihren Aufenthaltsort?«
    »Ich überprüfe grad, ob vom Konto in letzter Zeit Geld abgehoben wurde. Im Moment scheint es so, als wären die Spanier noch größere Bürokraten als wir. Kann noch ein bisschen dauern, bis wir

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