Eisrosensommer - Die Arena-Thriller
Stahlseile einzuklinken, per Handy, in dem Moment, als Lennart in den Reitweg eingebogen war. Aber er hatte nicht gewollt, was dann passiert war.
Ihr fiel, wie so oft, wenn sie nicht weiterwusste, ein lateinischer Spruch ein.
Maiora cupimus, quo maiora venerunt: Je mehr einer hat, desto mehr begehrt er. Seneca.
Wohlstandsverwahrlost nennt man das heutzutage…
Es stimmte, was sie in der Zeitung geschrieben hatten: Rebeccas kranke Fantasien hatten Jonas fasziniert. Und er hatte sich von ihr um der puren Grenzüberschreitung willen widerstandslos manipulieren lassen.
Opfer oder Täter? Am Ende war Jonas beides zugleich.
Pia setzte sich auf eine Friedhofsbank und nahm sich Zeit, um ihn zu weinen.
Epilog
»Inkamäßiges Ear-Flap-Beanie?!« Lennart hob verständnislos die Schultern. »Was soll das denn sein?«
»Au Mann!« Pia kicherte. »Das nennt man, glaub ich, Fachidioten-Syndrom: Nach Peru fliegen und den dicken Forscher-Maxe markieren, und nicht mal den Haupt-Exportartikel kennen!«
»Klar kenn ich den! Fischmehl! Und Kaffee, Kupfer, Gold! Im neunzehnten Jahrhundert war’s Guano…«
»Stopp!« Lachend legte Pia Lennart den Finger auf den Mund. »Ich will weder Fischmehl noch Kaffee oder einheimische Bodenschätze mitgebracht kriegen! Und Vogelkacke erst recht nicht!«
»Schade. Ich dachte, gerade Vogelkacke würde dir besonders…«
Den Rest des Satzes verschluckte die Flughafendurchsage: »Last call for KLM Flight Number 0743 to Lima…«
Pias Herz machte einen kleinen Stolperer:
Sechs Wochen ohne Lennart! Und das wahrscheinlich ohne Skype und Internet!
»Du fehlst mir jetzt schon«, murmelte Lennart, als er sie zum Abschied in die Arme nahm.
Reiß dich zusammen, Pia! Heul jetzt bloß nicht los!
Sie hatten die letzten zwei Wochen an der Nordsee verbracht: Herbstferien, Nachsaison, in einem winzigen Hotel in den Dünen; tagsüber lesend in einem der letzten noch geöffneten Strandpavillons, nachts eng umschlungen in einem riesigen, altmodisch zweigeteilten Doppelbett, einander ertastend, erspürend und unbändig glücklich, zueinander gefunden zu haben.
Jetzt, in der Abflughalle des Flughafens Amsterdam-Schiphol, konnte Pia beim besten Willen ihre Tränen nicht mehr zurückhalten.
Ich blöde, sentimentale Kuh! Anstatt mich mitzufreuen!
Bei der Exkursion nach Südamerika ging es – soweit Pia verstanden hatte – um schamanische Heilpflanzen und die Sagen und Mythen, die sich um so poetische Namen wie Mapacho, Chakruna und Bobinzana rankten.
Für Lennart war es eine Auszeichnung, teilnehmen zu dürfen; die anderen Mitreisenden waren ausnahmslos Studenten aus höheren Semestern.
»Na, komm, Lennart! Reiß dich los!«, rief einer seiner Kommilitonen. Die anderen waren bereits auf dem Weg zur Gepäckkontrolle.
»Kachel aus Ofen!«, rief Pia Lennart hinterher.
Ein Code, den nur sie beide verstanden: »Ich habe dich so lieb, ich würde dir ohne Bedenken eine Kachel aus meinem Ofen schenken…« Das Gedicht hatte Pia irgendwann mal im Deutschunterricht gelesen.
Kurz vor der Gepäckkontrolle machte Lennart noch einmal kehrt. »Momeeeent!!! Was ist ein inkamäßiges Ear-Flap-Beanie?!«, brüllte er über die Köpfe der Wartenden hinweg.
»Na, so ’ne bunte Strickmütze! Mit eingestricktem Lama-Muster und Zipfelbommel!«, brüllte Pia zurück.
»Soll ich dir nicht doch lieber echten Gua. . .«
»Neeeein!!!«
Pia winkte exzessiv, bis Lennart endgültig im Gewühl der Reisenden verschwunden war.
Zurück im Hotel wurde sie bereits sehnlichst erwartet.
»Na, komm, Chasca«, sagte Pia, »die paar Wochen ohne ihn kriegen wir schon irgendwie rum!«
Die kleine schwarz-weiße Hündin gab einen freudigen kleinen Fiepser von sich und stürmte los.
In eigener Sache zum Thema Fiktion und Realität
Die Behauptung, dass sich mittlerweile ganze Generationen hyperbegabter Kinder mit speziell gefärbter Aura inkarnieren, stammt aus der Feder US-amerikanischer Esoterikautorinnen und -autoren, von denen einige ihr Wissen – nach eigenen Aussagen – von einem Geistwesen übermittelt (gechannelt) bekommen.
Seit der Jahrtausendwende finden die entsprechenden Ideen auch in Europa zahlreiche Anhänger. Häufig werden seitens der zum Teil kultähnlich agierenden Kreise antisoziales Verhalten, mangelnde Konzentrationsfähigkeit und Schulversagen mit Hinweis auf die angeblich besondere Begnadung der betreffenden Kinder beschönigt, und sie erhalten nicht die nötige pädagogische und/oder therapeutische Hilfe.
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