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EisTau

EisTau

Titel: EisTau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilija Trojanow
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lehne ich mich am Bug über das Geländer, die Gischt spuckt mir ins Gesicht, ich kralle mich am Holz fest, der Wind watscht mich ab, er hat jedes Recht, mich zu strafen, für meine Bequemlichkeit, für unsere zivilisatorische Todsünde, die das Prinzip des Lebens negiert, denn nur was einen energetischen Gradienten hinaufstrebt, lebt. Sturmvögel tanzen durch die Böen, die Ekstase ihres Emporsteigens und Stürzens ist meine flügge gewordene Sehnsucht, ich wiege mich in der Luft, als wäre es auch mir gegeben, so zu tanzen, die Motoren gurgeln im Rachen eines jaulenden Sturms, lächerlich bin ich,mir imponiert, was selbstverständlich ist. Wir können den Vogelflug nicht lesen, sagt El Albatros. Nur mißverstehen. Im Halbsichtbaren sind die Schemen eines gewaltigen Objekts zu erahnen, ein Eisberg schiebt sich heran, größer als unser Schiff, oben flach, wie glattgestrichen, als wäre eine ganze Provinz von der Schelfeiskante abgetrennt worden, dazu verdammt, um den Südpol zu kreisen oder in den Norden zu treiben und im Vergehen die reinste Luft in die Hemisphäre, das sauberste Wasser in den Ozean zu geben, aufgeladen mit Heilkräften, die pflanzliches Plankton wachsen lassen, und tierisches Plankton, das Krill nährt, kleine Garnelen, die Vögel und Wale nähren (seit meiner Geburt, sagt Beate, hat die Krillpopulation um vier Fünftel abgenommen, darüber kann man nicht geteilter Meinung sein). In die Seiten des Eisbergs sind ovale Öffnungen geschlagen, gewaltige Vulven, die sich im Inneren einbläuen. Schmelzende Lockrufe. Unvermutet flammt die Sonne hinter einem diesigen Vorhang auf, ein Parameter der Endlichkeit. Das Leuchten hält einige Wellenschläge an, bevor es wieder verschwindet und der Sturm im Zwielicht weitertobt.
     
     
    Stille? Ein Gut, so knapp, daß es erfolgreich vermarktet wird, gehütet in Schutzzonen, gehegt in Reservaten. Diese Nischen schrumpfen, der Puls der Zeit dröhnt allenthalben im Viervierteltakt. Vor einigen Jahren, die Kirchenglocken hatten gerade zur vollen Abendstunde geschlagen, weigerte ich mich, das Haus zu verlassen, um in einem Gasthof zu speisen, verwahrte mich gegen die Lautsoße, die über jeden Hirschbraten gegossen wird. Willst du auch den Arzt nicht mehr aufsuchen,weil in seinem Wartezimmer Antenne Bayern läuft, fragte Helene voller Häme, und was ist mit dem Zahnarzt und seinen buddhistisch-sphärischen Klängen? Sie schnappte sich den Autoschlüssel aus der Keramikschale und brauste davon, zu ihrer Schwester, die mir wohlgesinnt war, weil sie nicht die Geduld für Helenes in Endlosschleifen abgespielte Beschwerden aufbrachte. Ich setzte mich auf den Stuhl in der Diele, schloß die Augen und verharrte lange in dieser Haltung. Wie soll man begreifen, daß »Stille« und »Stillstand« zu Schimpfwörtern mutiert sind? Selbst auf Wanderwegen höre ich die anästhesierenden Bässe jener Junkies, die den Klang der Natur nicht mehr ertragen. Wenn sie wenigstens der eigenen Stimme lauschen würden, aber nein, sie schmieren alles zu mit einer Schicht abgestandenen Lärms. Zugegeben, in der S-Bahn auf dem Weg zur Universität habe ich gelegentlich auch Kopfhörer aufgesetzt, die Töne von Tallis verschleierten die Häßlichkeit der Nutzbauten entlang der Strecke, doch es wäre undenkbar gewesen, Tallis im Wald, am Berg zu hören oder in Gegenwart von Menschen, die ich kannte. Auf der HANSEN gibt es keine öffentliche Beschallung (auf anderen Schiffen in anderen Breitengraden sehr wohl, wie mir Paulina erzählt hat, da kreischen Jingles, da dröhnen Fanfaren); auf der King-George-Insel hat vor kurzem ein Rockkonzert stattgefunden, die Gletscherwände werden einstürzen wie die Mauern von Jericho. In unserer Kabine ist nur Paulinas zarter Gesang zu vernehmen (im Gegensatz zu vielen ihrer Landsleute hängt sie nicht an den Lippen der Talkmaster), sie mischt Evergreens der Siebziger mit philippinischen Volksweisen, mit ihrem Gesang hat sie mich gebannt, am letzten Abend meiner ersten Reise, zuvor war sie mir kaumaufgefallen, ihre unaufdringliche Höflichkeit hatte sich eingereiht in die konfektionierte Freundlichkeit aller anderen Filipinos, beim Abschlußkonzert – die Passagiere erweisen der Besatzung den Gefallen, sich belustigen zu lassen – war sie wie verwandelt, in eine selbstbewußte Barsängerin, gebündelte Energie im Lichtkegel, die Beine übereinandergeschlagen, zog sie Sehnsüchte auf sich, der Schuh baumelte von ihrer rechten Fußspitze an einer silbernen

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