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Eistochter

Eistochter

Titel: Eistochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dawn Rae Miller
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ein paar Minuten weiter, und Beck lehnt sich gegen mich, so dass seine Hand mit meiner verbunden bleibt.
    Als wir noch klein waren, war ich größer, stärker und schneller als er. Ich habe Beck vor den älteren Kindern beschützt, die alle schikanierten, die kleiner waren als sie selbst, und im Gegenzug hat er mich zum Lachen gebracht. Wenn ich jetzt so neben ihm stehe, ist das kaum zu glauben. Er ist gut dreißig Zentimeter größer als ich und kein mickriges Kerlchen mehr, sondern sehr muskulös.
    Beck braucht vielleicht meinen Schutz nicht mehr, aber ich brauche ihn immer noch, damit er mich zum Lachen bringt.
    Die Schule taucht in der Ferne vor uns auf, als wir um die nächste Ecke biegen. Es ist ein imposantes altes Ziegelgebäude, von dem man eine grandiose Aussicht auf die kahlen Hügel und die funkelnde Bucht hat. Unseren historischen Aufzeichnungen nach führte früher eine breite Brücke dort über die Meerenge, wo die Bucht in den Ozean übergeht, aber es gibt sie schon seit mindestens fünfzig Jahren nicht mehr. Sie war bereits fünfundsiebzig Jahre lang nicht mehr genutzt worden, seit dem Inkrafttreten des staatlichen Verbots aller Privatautos, das der Wiederherstellung des empfindlichen Ökosystems dienen sollte, in dem unsere Gesellschaft lebt.
    »Weißt du, Be…«
    Mein Armband piepst.
    Mein Armband hat gepiepst.
    Beck sieht mir in die Augen, und ich weiß, dass er es ebenfalls gehört hat. Sein Kopf fährt herum, und er lässt den Blick suchend über die leere Landschaft ringsum schweifen. In der Ferne sehen wir unsere Klassenkameraden nur noch als Pünktchen durch den Schnee hüpfen. Sie sind weit weg. Zu weit. Warum haben Beck und ich nicht mit ihnen Schritt gehalten?
    Die Stimme einer Frau übertönt den Musikfeed: »Lark, geh sofort in Deckung.«
    Das ist keine Übung. Ein Empfindsamer ist in der Nähe.
    Beck, der dieselbe Nachricht gehört hat, zieht mich hinter sich her. Ich wende hektisch den Kopf, um nach einem Ort Ausschau zu halten, an dem wir uns verstecken können, aber wir sind meilenweit von Weiß umgeben.
    Und womöglich von Empfindsamen.
    Wir flüchten Richtung Schule, aber ich rutsche beim Rennen aus, mache uns langsamer. Warum trage ich auch so unpraktische Schuhe?
    Die Stimme der Frau wiederholt die Ansage: »Geh sofort in Deckung.«
    Irgendwie höre ich über das Pochen meines Herzens hinweg ein leises Rascheln hinter uns. Meine Füße berühren den Boden nicht mehr. Ich liege mit dem Gesicht nach unten im Schnee, und Becks Körper verdeckt meinen völlig. Ich bekomme keine Luft.
    Ich wehre mich gegen ihn, kämpfe mich hoch. Er drückt mich nieder und flüstert: »Rühr dich nicht. Sie kommen hier entlang.«
    Knirschender Schnee. Stetige Schritte auf Beck und mich zu. Sein Arm schließt sich enger um mich, und sein Körper spannt sich an, macht sich für den Notfall kampfbereit.
    Er kann nicht gegen sie kämpfen. Wir haben keine entsprechende Ausbildung erhalten. Wir haben nur eine Chance, wenn wir uns verstecken und beten, dass sie uns nicht sehen.
    »Kommt hervor, zeigt euch, wo auch immer ihr seid. Wir wissen, dass ihr hier seid«, ertönt der Singsang einer Männerstimme.
    Ich taste an meinem Armband herum und versuche, mit halb erfrorenen Fingern den Alarmknopf zu finden.
    Warum geht der Sicherheitsalarm der Schule nicht los?
    Becks Finger umschlingen mein Armband. Zuerst glaube ich, dass er den Alarmknopf drücken will, aber er tut nichts. Sein beschleunigter Atem tönt mir in den Ohren.
    »Kommt schon. Das ist gegen die Spielregeln.« Die Stimme des Mannes ist jetzt so klar und deutlich zu verstehen, dass er auf der anderen Seite des kleinen Hügels stehen muss, hinter dem Beck und ich uns versteckt haben.
    »Unsere Fußspuren«, murmelt Beck. »Er sieht unsere Fußspuren.«
    Mein Körper zittert, nicht vor Kälte, sondern vor Angst. Wenn er uns fängt … Ich kneife die Augen zu und schlucke einen Aufschrei hinunter. Um uns herum wirbelt der Schnee so hektisch wie mein Herzschlag.
    Plötzlich spüre ich Becks Druck nicht mehr auf meinem Rücken lasten. Er steht auf der Hügelkuppe wie auf dem Präsentierteller.
    »Was tust du?«, schreie ich.
    Beck hält seine Aufmerksamkeit auf das gerichtet, was er vor sich sieht.
    »Sucht ihr mich?«, fragt er. Er klingt ruhig – nicht so, als ob er unserer größten Bedrohung gegenüberstünde.
    Warum sollten sie nach ihm suchen?
    Ich rutsche mit dem Fuß ab, als ich den sanften Abhang emporsteige, und stütze mich mit den Händen

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