Eistochter
hat Callum uns während unserer wenigen Besuche zu Hause immer aufgespürt und Beck schikaniert.
Mein Bruder trägt sein blondes Haar länger, als ich es in Erinnerung habe. Diese Frisur passt besser zu einem Staatsmann als zu einem Schuljungen.
Ich mache Anstalten, meine Familie zu begrüßen, aber Beck zögert mürrisch. Eine Million ängstlicher Druckpunkte bauen sich in meiner Brust auf und drängen nach draußen, bis sie mir wie winzige Spinnen über die Haut krabbeln. Irgendetwas stimmt nicht.
»Lark. Schwester. Wie geht es dir, meine Liebe?« Anspannung durchläuft meinen Körper, als Callum mich kräftig an seine Brust zieht. Seine Umarmung gleicht eher einem Versuch, mich zu erwürgen.
Annalise berührt Callum am Arm. »Das reicht, Liebling. Die arme Lark bekommt ja kaum noch Luft. Du möchtest doch sicher keine künftige Staatsfrau verletzen, nicht wahr?«
Er lässt mich mit einem sanften Kuss auf die Wange los und tritt zurück. Der Druck in meiner Brust legt sich, und mein Herz schlägt langsamer.
»Lark, meine Liebe, wenn man bedenkt, was du durchgemacht hast, siehst du gut aus.« Annalises Stimme ist leise und melodisch. Sie küsst mich auf beide Wangen, wie es unter Staatsleuten üblich ist. Als sie auch Beck, der neben mir steht, diese Begrüßung angedeihen lassen will, zuckt er zurück und will sich nicht von ihr berühren lassen.
Ich starre Beck mit in die Hüften gestemmten Händen böse an. Ich weiß, dass er und Callum nicht immer miteinander zurechtgekommen sind, aber sein Verhalten ist lächerlich. Ich trete neben ihn und stoße ihn leicht an, damit er einen Schritt vorwärtsmacht, aber er baut sich breitbeinig auf und will sich nicht bewegen.
»Geht es dir gut?«, frage ich. Vielleicht hat das Entsetzen über den Angriff ihn durcheinandergebracht. »Soll ich den Heiler rufen?«
Er steht weiter angespannt mit zur Seite geneigtem Kopf da, als ob er versuchte, ein Geräusch in weiter Ferne zu hören. »Mir geht es gut.«
Was ist denn dann mit ihm los? Das hier ist weder der passende Zeitpunkt noch der rechte Ort, um alte Reibereien aus der Kindheit aufzuwärmen. Ich werde für uns beide einen guten Eindruck machen müssen. Meine Worte nehmen einen förmlichen Staatston an: »Schickt Mutter euch?«
Als Callum sich leicht vorbeugt, veranlasst das Beck, mich am Arm zu packen. Er verändert seine Körperhaltung unauffällig so, dass er zwischen Callum und mir steht. Callum reagiert auf Becks seltsam beschützendes Auftreten, indem er selbst ein weniger bedrohliches Gebaren an den Tag legt.
Annalise schenkt mir ein hübsches Lächeln, als ob sie Becks und Callums seltsame Körpersprache gar nicht bemerken würde. »Natürlich hat sie Callum geschickt, um sicherzugehen, dass dir nichts geschehen ist. Aber meine Aufgabe im Staat besteht darin, die Sicherheit, und zwar insbesondere die Sicherheit der leitenden Funktionäre – wie Malin – und unserer Schulen zu gewährleisten.« Sie knöpft sich den Mantel auf und hängt ihn an einen nahen Garderobenständer. »Ich habe den Auftrag erhalten, herauszufinden, wie es zu dieser Sicherheitslücke kommen konnte, und dafür zu sorgen, dass so etwas nicht wieder geschieht.«
»Wirklich?«, frage ich. Mit ihren perfekt manikürierten Nägeln und ihrem seidigen schwarzen Haar ähnelt Annalise eher einem Gemälde als einer Wachfrau.
»Wirklich.«
»Dann habt ihr eure Sache aber nicht besonders gut gemacht, oder?« Beck schnalzt mit der Zunge gegen seine Zähne. »Lark hätte getötet werden können.«
Nicht »wir«, sondern »Lark«.
Annalise zieht einen kleinen Tablet-Computer aus der Handtasche und tippt darauf. »Lasst mal sehen … Meinem Bericht nach hast du den Empfindsamen eure Position verraten. Trifft das zu?«
Beck starrt sie finster an und legt mir schützend den Arm um die Taille. Seine Körperhaltung verrät Anspannung. Trotz all meiner Kleiderschichten bin ich überzeugt, dass er Hitze abstrahlt.
»Das Sicherheitssystem hat versagt. Ich habe versucht, sie von Lark abzulenken. Sie war versteckt, bis sie beschlossen hat, auf den Hügel zu steigen.«
Mein Herz rast, als ob es Angst hätte. Ich schmiege mich an Beck. Das hier sind mein Bruder und meine Schwägerin! Ich weiß ja, dass wir nicht immer gut miteinander ausgekommen sind, aber was gibt es da zu befürchten?
Annalises Lippen verziehen sich, während sie die Stirn runzelt. Aber es ist die Bewegung ihrer Hände, die ich sonderbar finde – sie scheinen zu zittern. »Du
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