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Eistochter

Eistochter

Titel: Eistochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dawn Rae Miller
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auf. Als ich die Hügelkuppe erreiche, stellt Beck sich zwischen mich und das Dutzend Empfindsamer unter uns. Meine Augen huschen instinktiv zu ihren Handgelenken – alle nackt. Der Staat hat sie noch nicht erwischt.
    Zu meiner Überraschung greift das zerlumpte Häuflein nicht an. Sie beobachten Beck und mich verwirrt, und ihre Blicke huschen zwischen uns beiden und unseren verschlungenen Händen hin und her.
    Aus der hintersten Reihe der Gruppe tritt eine zerzauste Frau hervor. Sie hebt den Arm, zeigt auf uns – auf mich. Sie zeigt auf mich.
    »Ich weiß, wer du bist.« Ihre wahnsinnigen Augen funkeln. »Ich weiß es.«
    Ein stummer Schrei bleibt mir in der Kehle stecken. Natürlich weiß sie es. Ich bin Malin Greenes Tochter, direkte Nachfahrin von Caitlyn Greene, einer der Staatsgründerinnen, die dafür verantwortlich ist, dass die Empfindsamen heutzutage verfolgt werden.
    Jeder weiß, wer ich bin.
    Und die Empfindsamen hassen mich und meine Familie mehr als irgendjemanden sonst.
    Mein Herz gerät ins Stolpern, und meine Angst weicht Zorn.
    Becks Finger lösen sich von meinen und wandern zu meinem Armband. Er betätigt den Alarmknopf, den ich vorhin mit meinen tauben Fingern nicht finden konnte.
    Ein lautes Heulen erfüllt die Luft. Sirenen. Die Barrikade erwacht surrend zum Leben und leuchtet. Aus einiger Entfernung kommt Sicherheitspersonal auf uns zugelaufen.
    »Wir werden frei sein!«, ruft die Wahnsinnige. »Ihr könnt uns nicht aufhalten!«
    Ich hebe wütend die Hand, um ihnen zu sagen, dass sie uns in Ruhe lassen sollen, dass es keine Hoffnung für sie gibt. Sie sitzen in der Falle.
    Ein unglaublich gleißendes weißes Licht blitzt auf. Beck schreit: »Nein!«, und wirft mich wieder zu Boden, zwingt mich, den Blick von den Empfindsamen abzuwenden und stattdessen zur fernen Bucht hinüberzusehen.
    »Nein, nein, nein. Bitte nicht«, flüstert Beck.
    Vom Fuße des Hügels ertönt kein einziger Laut.

4
    Zwei Stunden später, als ich mit Beck im Büro des Schulleiters sitze, klopft mein Herz noch immer laut. Das Warten beruhigt meine Nerven nicht gerade.
    Als das Sicherheitspersonal uns erreichte, hat Beck mich hochgehoben wie eine Stoffpuppe – nicht wie das Mädchen, das früher am Tag einen Ringkampf gegen ihn gewonnen hatte – und mich trotz meiner Proteste zur Schule getragen.
    »Nein, Vögelchen«, hat er gesagt, als ich mich gewehrt habe. »Sieh nicht hin.«
    Aber das habe ich doch getan. Ich habe die zerschmetterten Körper gesehen, mit denen der Schnee übersät war. Tot. Jeder einzelne von ihnen.
    Erleichterung stieg in meinem Herzen auf. Weil es sie getroffen hatte und nicht uns. Nicht Beck. Nicht mich. Nur elende Empfindsame.
    In Becks Armen murmelte ich dankbare Worte darüber, dass der Sicherheitsdienst so gut durchgegriffen hätte.
    Wir gingen über den Schnee, je ein Wachmann rechts und links von uns, und betraten die stille Schule. Alle Schüler bis auf uns hatten in einem sicheren Raum Unterschlupf gesucht, bis Entwarnung gegeben wurde.
    Jetzt sind alle wieder im Unterricht, aber Beck und ich warten immer noch darauf, dass wir gehen dürfen. Ich werfe einen Blick auf mein Armband. Wenn sie sich nicht beeilen, verpassen wir noch unsere Prüfung.
    »Es geht uns gut. Warum dürfen wir nicht gehen?«, frage ich.
    »Ich weiß es nicht.« Beck drückt mir die Hand, die er nicht mehr losgelassen hat, seit wir zusammen auf dem Hügel gestanden haben.
    Stille umfängt uns. Wir haben alle Worte schon aufgebraucht, als wir vor der Sicherheitsmannschaft unsere Aussage gemacht haben. Neben mir erstarrt Becks Körper, und er presst mir die Finger zusammen.
    »Aua!«
    Er dreht sich so auf dem Stuhl, dass er zur Tür hinübersieht. Seine Augen verengen sich, und seine Hand umfasst meine nicht länger. Er neigt den Kopf zur Seite, als ob er auf etwas lauschte. Neugierig folge ich seinem Blick.
    Die Tür schwingt auf, und eine Frau kommt hereingerauscht, gefolgt von einem hochgewachsenen Mann, der sich den Hut so tief in die Stirn gezogen hat, dass sein Gesicht verborgen ist.
    Sie ist schön. Ihr rabenschwarzes Haar fällt in sanften Wellen und hebt sich von ihrem langen cremefarbenen Mantel ab. Ihre von Natur aus roten Lippen verziehen sich zu einem warmen, einladenden Lächeln, und da erkenne ich sie: Annalise, meine Schwägerin.
    »Callum«, flüstert Beck mit einem Hauch von Verachtung, als mein Bruder den Hut abnimmt. Er und Callum sind noch nie gut miteinander ausgekommen. Als wir noch klein waren,

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