Eistod
Zürich
Schwinn verdrehte die Augen. Wenn der Professor sprach, dann natürlich in der Aula, in der Götter und Göttinnen die Wände zierten. Ihn überraschte das nicht. Schließlich kannte er Winter seit bald zehn Jahren. Seit damals, als sie sich in Stanford zum ersten Mal begegnet waren; der Student und der Professor. Jetzt forschten sie gemeinsam an der ETH: er, der Assistenzprofessor, und Winter, der liebe Gott.
Während Schwinn die Treppen weiter hochstieg, dachte er an den Streit, den er mit Winter am Telefon gehabt hatte.
»Mein lieber Koni«, hatte der Professor gesagt. »Jetzt wollen wir doch nicht gleich zur Polizei gehen.« Mit mein lieber Koni begann immer, was schließlich in einem Imperativ endete. Auch wenn es milde, ja beinahe nachsichtig geklungen hatte; was Winter sagte, es war Gesetz. Diesmal kam der Imperativ jedoch zu spät. Schwinn hatte bereits bei der Polizei angerufen. Winter war an die Decke gegangen, als er ihm davon erzählt hatte. Außer sich, hatte er wüst geschimpft und den Hörer aufgelegt. Schwinn konnte sich darauf keinen Reim machen. Immerhin hatte man bei ihm eingebrochen.
Am 5 . Januar hatte sein Dienst in Heimenschwand geendet und er war zurück nach Zürich gekommen. Seine Wohnungstür hatte er unverschlossen vorgefunden, alles war durchwühlt worden. Wenn das kein Grund war, die Polizei zu verständigen.
Eine halbe Stunde später hatte Winter wieder angerufen und vorgeschlagen, sich nach der Vorlesung zu treffen. Den seltsamen Forschungsbericht hatte Schwinn noch gar nicht erwähnt. Er trug ihn bei sich, in einer Mappe. Er war der eigentliche Grund, weshalb er den Professor sehen wollte.
Schwinn schlich in die Aula.
Der Saal war überfüllt. Es roch nach Parfüm und Abendgarderobe. Einige Leute standen an der Seite und hinten bei den Säulen. Der Assistenzprofessor stellte sich zu zwei Studenten an der hinteren Wand. Er spähte über die Köpfe.
Wie bei jeder interdisziplinären Vorlesung, die einer breiten Hörerschaft offenstand, war das Publikum gemischt. Studierende aus allen Fachrichtungen waren da, Ärzte und Therapeuten. Ein paar Journalisten und auffällig viele Damen der gehobenen Alters- und Einkommensklasse. Welche Gründe gab es für eine Mittfünfzigerin, abends bei Nacht und Nebel hierherzukommen? Die eigene Nacht? Schwinn dachte an die Umsatzstatistik von Prozac , die ihm Winter einmal gezeigt hatte: Frauen, Frauen und nochmals Frauen. Fast drei Viertel.
Die vertraute Stimme kam aus allen Ecken durch die Lautsprecheranlage:
»Männer sind hart gegen sich selbst …« Der kleine Mann am Rednerpult sprach völlig frei. Nicht einmal einen Zettel hatte er in der Hand. »Anstatt sich helfen zu lassen, saufen sie lieber und irgendwann schießen sie alles über den Haufen. Dann sind sie auch hart gegen alle andern.«
Vereinzelt war Gelächter zu hören.
»Es gibt gar nicht so viele Psychiater, Therapeuten und selbst ernannte Handaufleger, die sich anhören, was ihnen eigentlich niemand erzählen will. Die Psyche … das ist ein Gedankenkonstrukt, meine Damen und Herren.«
Schwinn seufzte. Er wusste, was nun kommen würde.
Es kam Immanuel Kant. Ein zeitgenössischer Stich des Denkers flog vom Projektor auf die Großleinwand. Die nächsten fünf Minuten gehörten der Kritik der reinen Vernunft .
Schwinn nahm zwei zusammengefaltete DIN-A 4 -Blätter aus seiner schwarzen Ledermappe. Bei Kant hätte er sich gerne hingesetzt. Noch einmal sah er sich um, ob nicht doch ein Platz frei war. Er hatte kein Glück.
Auf den Blättern fanden sich Gruppen von Buchstaben, in mehreren Kolonnen scheinbar wahllos aneinandergefügt: PRBOS SOSMGMGEURB und so weiter. Zahlen waren keine darauf. Auf den ersten Blick entdeckte er darin keinen Sinn. Vermutlich kodiert, dachte Schwinn. Er achtete darauf, dass niemand die Liste einsehen konnte. Die Zeilen waren durchnummeriert von eins bis achtzehn. Insgesamt waren es zwei Seiten, die als Anhang dem Bericht über den klinischen Test von Proetecin beigefügt waren. Er hatte schon Stunden damit verbracht herauszufinden, was sich hinter dieser seltsamen Buchstabenfolge verbarg. Eines der gängigen Chiffrierungsverfahren war es jedenfalls nicht, denn die kannte er. Es musste etwas anderes dahinterstecken.
Von der Seite betrachtete Schwinn das Profil der Leute, wie sie angestrengt ihre Hälse reckten oder andächtig – teils mit geschlossenen Augen – der Vorlesung folgten.
Mit der Hilfe von Kants reiner Vernunft steuerte
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