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Eistod

Eistod

Titel: Eistod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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Winter dorthin, wo er von Anfang an hingewollt hatte. Zur biologischen Psychiatrie:
    »Kant unterscheidet zwischen der Welt der Erscheinungen und dem Ding an sich . Nur die Welt der Erscheinungen kann der Mensch begreifen. Die Dinge an sich – wozu er die Frage nach einem Gott und dem Wesen der Seele zählt – kann der Mensch zwar denken, aber nicht erkennen. Und da sind wir wieder bei der Psyche … einem reinen Gedankenkonstrukt. Glauben Sie mir, meine Damen und Herren … es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Wissenschaft sogenannte psychische Funktionen wie Selbstsicherheit, Disziplin oder auch Liebesfähigkeit und Intelligenz biologisch beeinflussen kann.« Winter machte eine kurze Pause und blickte wie ein Matador in den Saal. »Und wenn ich von der Wissenschaft spreche, dann meine ich natürlich die Natur- und nicht die Geisteswissenschaft.« Er gab dem Techniker, der über einen Laptop die Lichtbilder steuerte, ein Zeichen. »Denn grau ist alle Theorie …«
    Das Bild von Immanuel Kant zerbröselte kunstvoll auf der Leinwand. Als Nächstes erschien eine Umsatzstatistik der bekanntesten Psychopharmaka.
    »Widmen wir uns den realen Gegebenheiten … fragen wir uns, was die ganzen Gesprächs-, Mal- und Familientherapien bringen.«
    Die Umsatzstatistik zeigte, dass sich die Nachfrage nach Antidepressiva in den letzten zehn Jahren vervierfacht hatte.
    »Warum landen sie am Ende alle bei uns … bei Fluvoxamin, Fluoxetin, Paroxetin, Sertralin, Ludiomil und bei Prozac ? Ich frage mich, wann wir uns endlich einzugestehen trauen, dass Depression, Schizophrenie und Suchtstörungen auf einer Dysfunktion im Hirnstoffwechsel beruhen.«
    Es kam Winters übliche Leier. Und die klang gut. Zu jedem Problem gab es eine Lösung.
    Viele Leute im Saal nickten zustimmend. Vermutlich Angehörige, dachte Schwinn. Menschen, die Drogensucht und Depression nur aus der indirekten Perspektive kannten. Und doch mittendrin waren. Eltern, Geschwister und Partner. Es schien, als fühlten sie sich plötzlich verstanden; als hätten sie es immer schon gewusst.
    »Man muss sich nur helfen lassen«, dröhnte es aus den Lautsprechern.
    Dass der Professor schlecht gelaunt war, merkte Schwinn daran, wie er im Anschluss Fragen beantwortete. Kurz und lieblos. Schon nach wenigen Minuten blickte Winter zum Rektor. Tippte auf die Armbanduhr und zeigte seinem Kollegen an, dass es Zeit war.
    Es folgte ein salbungsvoller Abschluss.
    Einem Journalisten, der mehrmals auf die Einseitigkeit des Referates und Winters Nähe zur Pharmalobby hingewiesen hatte, antwortete der Rektor, selbst Professor für Kernphysik: »Auch wenn’s hier aussieht wie in einem Gotteshaus …« Mit beiden Händen deutete er auf die ornamentale Ausstattung der von Gottfried Semper gebauten Aula. » … so sind wir als Forscher doch an Lösungen mehr interessiert als an Glaubensfragen.«
    Es gab noch einmal verhaltenes Gelächter, bevor sich die Leute erhoben und in dezentem Gedränge zum Ausgang strömten. Das Versprechen des Professors hatte in vielen Gesichtern Zuversicht und Hoffnung hinterlassen.
    Auch die Göttin Minerva blickte zufrieden aus einem der Wandbilder.
    Schwinn spähte über die Köpfe hinweg zum Rednerpult. Er konnte Winter nicht sehen. Eine Menge Leute standen um den kleinen Mann herum. Der Stadtpräsident und seine Gattin waren da, einige Professoren und Frank Hummer, Präsident des größten Pharmamultis im Lande. Es würde noch eine Weile dauern.
    Konrad Schwinn wartete geduldig.
    »Gehen wir kurz in mein Büro«, sagte Winter, als er endlich kam. Er sah müde aus. Das Feuer, das während des Vortrags noch gelodert hatte, schien erloschen zu sein.
    Schweigend gingen sie durch das Treppenhaus und verschiedene Gänge. Dann betraten sie Winters Arbeitszimmer.
    »Die wollen, dass ich noch zum Abendessen mitkomme.« Der Professor seufzte.
    Sie setzten sich.
    Schwinn legte die Proetecin -Studie auf den Tisch. Daneben entfaltete er die Listen mit dem Buchstabensalat.
    »Was ist das?« Der Professor zog die Augenbrauen hoch.
    »Das wollte ich gerade dich fragen, Theo.«
    Winter nahm den Bericht, blätterte darin, völlig unbewegt:»Also wenn’s um Proetecin geht, dann muss es wohl von uns stammen.«
    »Eben nicht«, sagte Schwinn. »Das ist es ja. Ich weiß haargenau, was wir gemacht haben. Es stammt nicht von uns, glaub mir.« Schwinn zögerte einen Moment. »Es sei denn, es wurde ohne mein Wissen veranlasst.«
    »Was stellst du dir vor?« Der Professor

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