Eistod
im Nacken und starrte zum Fenster hinaus in die Dunkelheit. Die Stadtwohnung in der Wohllebgasse hatte er behalten. Wegen Kathrin, hatte er sich eingeredet. Und wegen Corina, hatte er gehofft. Aber niemand kam. In den vier Zimmern fühlte er sich wie in einem Mantel, der zwei Nummern zu groß war – der ihn schmächtig erscheinen ließ und ihn langsam zu erdrücken drohte.
Die Arbeit, auf die er sich während der Festtage hatte stürzen wollen, blieb größtenteils unerledigt. Und Zgraggens Frau, die ferienhalber in der Provence weilte, hatte er telefonisch benachrichtigen müssen. Vor ihm lagen ein paar Notizen zur Schießerei im Crazy Girl. Den Bericht hatte er schon zwischen den Jahren schreiben wollen. Dann kam die Nachricht, dass Frau Zgraggen mit einem Nervenzusammenbruch ins Burghölzli eingeliefert worden war. Dass ihr Mann eine solche Tat begangen haben sollte, war für sie schlicht unbegreiflich. Und deshalb hatte Eschenbach noch nicht mit ihr sprechen können. Es lief alles nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als zu warten.
Vielleicht hätte er diesen Fall unter anderen Umständen längst an einen Kollegen abgegeben. Es waren Routineermittlungen infolge einer menschlichen Katastrophe. Gefahr bestand keine mehr und die Frage nach dem Warum mochte er sich längst nicht mehr stellen. Das taten die psychiatrischen Dienste schon zur Genüge, meist zusammen mit den Angehörigen der Opfer. Aber wirklich gescheite Antworten hatten auch die nicht.
Irgendwie war er froh, dass die Sache noch nicht abgeschlossen war. So fand er wenigstens einen Grund, alles andere weiterhin unerledigt vor sich herzuschieben: den Jahresbericht für seine Chefin, die bis zum 10 . Januar in einem Weiterbildungskurs steckte; das Budget für die Sitzung am 11 . und den ganzen unbedeutenden Kleinkram, der täglich sein Postfach füllte.
Das persönliche Schreiben an ihn, in dem ein Benedikt Ramspeck um das Leben seiner Doggen fürchtete, warf er in Rosa Mazzolenis Fach. Und hinterher auch einen Stapel mit Briefen von Müttern, die sich wegen Kampfhunden im Quartier um ihre Kinder sorgten. Das alles kam zu ihm, zur Kriminalpolizei des Kantons – ein Hundeleben war’s! Aber seine Sekretärin würde bei der Beantwortung dieser Schreiben bestimmt die richtigen Worte finden.
Um ein Haar hätte Eschenbach den grauen Zettel übersehen, auf dem Rosa in seiner Abwesenheit einen Anrufer notiert hatte: Konrad Schwinn. Der Name sagte ihm nichts.
»Ist Assistenzprofessor am Biochemischen Institut an der ETH« stand in grüner, geschwungener Schrift darunter. Ein Pfeil deutete auf eine Zürcher Telefonnummer. Der Kommissar wählte.
»Institut Professor Winter«, meldete sich eine weibliche Stimme auf Band. »Unsere Öffnungszeiten sind Montag bis Freitag von acht bis zwölf Uhr und von …«
Eschenbach legte auf. »Auch die Götter haben Öffnungszeiten«, murmelte er.
Seit über 150 Jahren thronte die Eidgenössische Technische Hochschule auf dem Zürichberg, würdevoll eingerahmt von einem Bau von Gottfried Semper. Mit der kühlen Distanz der Besserwissenden schien sie all die Zeit auf die Stadt hinunterzublicken und sich zu wundern. Es war eine eigene Welt. Eine Welt, in der eins und eins immer zwei Komma null ergab und selbst Kommastellen Geschichte schrieben. Die Polizei hatte dort nichts verloren.
Einen Moment blieb der Kommissar sitzen und dachte nach. Er erinnerte sich an die Zeitungsberichte drei Jahre zuvor, als bekannt wurde, dass Theophilius Winter von der Stanford University an die ETH berufen worden war, um den Lehrstuhl für Biochemie zu übernehmen. Der kleine Theo, der während der ganzen Jahre im Sportunterricht nie auch nur einen Ballkontakt hatte und über den die Neue Zürcher Zeitung schrieb, dass mit ihm ein Genie in die Limmatstadt zurückgekehrt sei. Eschenbach nahm die halb gerauchte Brissago von der Tischkante, zündete sie an und sah zum Fenster hinaus in den Nebel. Irgendwo hinter dem grauen Schleier verbarg sich die Kuppel der ETH.
7
Konrad Schwinn war spät dran. Er betrat das Hauptgebäude, ging die Treppen hinauf, wobei er gleich zwei Stufen auf einmal nahm, und blieb vor dem Auditorium Maximum stehen. Kein Mensch war da.
An der Tür klebte ein DIN-A 4 -Blatt:
Der Vorlesungszyklus
DEPRESSION – EINE KRANKHEIT UNSERER ZEIT?
wurde in die Aula verlegt.
Heutiger Referent:
Prof. Dr. Dr. h.c. Theophilius Winter, Ordinarius für Biochemie an der ETH
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