Eistod
am Weinplatz. Aber es musste sein. Seit Jahren kaufte er dort. Die Liebenswürdigkeit, mit der er bedient wurde, war genauso altmodisch wie seine Treue zu diesem kleinen, verwinkelten Geschäft.
»Nein, nein, nein!« Frau Hintermann schüttelte energisch den Kopf und legte noch zwei Briefchen Streichhölzer zu den Brissagos, die der Kommissar gekauft hatte. »Der Sternenhimmel … das war doch so schön.« Sie hob die Augen.
»Romantisch«, sagte Eschenbach.
»Ja, genau. Romantisch!« Die Frau mit den rot gefärbten Haaren, bei der Eschenbach seit Jahren Zigarillos kaufte, strahlte.
»Eben.« Der Kommissar seufzte befriedigt, ließ die Schultern hängen und meinte: »Genau das ist es, Frau Hintermann. Die Romantik geht flöten.«
Seit vier Wochen führte der Kommissar eine private Befragung durch: zur neuen Weihnachtsbeleuchtung an der Bahnhofstrasse.
» … und gefällt Ihnen dieses Neon-Gehänge etwa?« Beinahe nahtlos hängte er den Satz an jede Begrüßung. Die Antwort war immer »Nein«; verbunden mit einem Kopfschütteln, einem »grauenhaft« oder »schlimm«. Eschenbachs Laune wurde besser, wenn jemand erbost »Wie konnte man nur!« sagte. Als Jurist sah er somit den Tatbestand der »Grobfahrlässigkeit« gegeben, während ein »Hätte man doch …« lediglich auf die leichtere Form von »Fahrlässigkeit« hindeutete. Der Unterschied lag im Strafmaß: Bußgeld oder Gefängnis, alles andere als vernachlässigbar also.
Eschenbach stapfte entlang der Limmat durch knöcheltiefen Schnee und fingerte an der Zellophanverpackung seiner Brissagos. Beim Café Wühre kehrte er ein. Stehend trank er einen Espresso, rauchte und sah sich die Leute an. Mehrheitlich jüngere Bankangestellte, die sich mit einer Flasche Corona in der Hand in den Feierabend tranken. Modische, dunkle Anzüge und Krawatten in hellem Rosa oder Grün. Einige von ihnen schützten ihre schwarzen Lederschuhe mit hässlichen grauen Gummi-Galoschen. Eschenbach trug braune Wanderschuhe mit Profil. Ein Relikt aus der Zeit, als Bally noch eine Schweizer Schuhfirma war.
Von einem der Tische nahm er den Blick , blätterte darin und paffte. Er suchte den Pitbull, den er spätestens auf Seite drei vermutete: geifernd und mit offenem Rachen. Seit ein Rudel Kampfhunde im Dezember letzten Jahres einen Kindergärtner totgebissen hatte, war die Terrier-Mischung häufiger im Boulevard-Blatt anzutreffen als Flavio Briatore. Eschenbach gähnte. Er war froh, dass er damals nicht nachgegeben hatte, als Kathrin unbedingt einen Hund wollte. »Nicht in der Stadt«, hatte er gesagt. Er sah sich einfach nicht auf dem Paradeplatz mit einem Plastiksäckchen Kothäufchen vom Pflaster aufheben.
Seit zwei Monaten wohnten Kathrin und Corina jetzt schon auf dem Land. In der Nähe von Horgen, in einem umgebauten Bauernhaus. Immer noch ohne Hund, dafür mit Wolfgang. Umgekehrt wär’s ihm lieber gewesen.
Begonnen hatte alles letzten Herbst, mit einem Klassentreffen. Erst hatte Corina gar nicht hingehen wollen. »Was soll ich da«, hatte sie gesagt. »Die meisten aus meiner Primarklasse leben immer noch dort: in Horgen! Sind nie über die Dorfgrenze hinausgekommen. Ich weiß gar nicht, über was ich mich mit denen unterhalten soll.« Es hatte spöttisch geklungen und Eschenbach mochte diesen Tonfall nicht. Zudem fand er ihre Argumentation lächerlich: »Nur weil wir in Zürich leben …«, hatte er gesagt und verständnislos den Kopf geschüttelt. »Das macht uns keinen Deut weltmännischer!« Dann hatte er sie ermuntert, trotzdem oder erst recht deswegen hinzugehen.
Es war Wolfgang, ein alter Schulschatz von Corina, jetzt Architekt von Welt, der zu sich auf den Bauernhof eingeladen hatte. Der Rest war Geschichte. Und ebendiese kam Eschenbach wieder hoch, als er an der Bar stand und dem Pitbull auf Seite drei im Blick in die hinterlistigen Äuglein sah.
Der Kommissar bestellte einen doppelten Laphroig. Weihnachten allein zu verbringen war ein Elend, dachte er. Und dazu noch mit Grippe, zum Glück war’s vorbei. Den Whisky leerte er in einem Zug. Dann bezahlte er die Rechnung und ging.
Es war halb sieben und im dritten Stock im Präsidium an der Kasernenstraße waren alle gegangen. Eschenbach warf seinen Mantel auf den Besprechungstisch, ging die paar Meter zu seinem Schreibtisch und ließ sich in den ledernen, schwarzen Bürostuhl fallen. Es gab nichts, das ihn hier gehalten, und nichts, das ihn nach Hause gezogen hätte. Er saß einfach da, verschränkte die Arme
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