Eistod
er, dass er den Kalender vom letzten Jahr vor sich hatte.
»Mögen Sie Kuchen?«, kam es freundlich.
»Ja, natürlich …« Eschenbach versuchte ein zweites blaues Buch unter einem Stapel Akten hervorzuziehen. Der Berg stürzte. Polizeiberichte, Ferienpläne und Budgetkürzungen verteilten sich wie Herbstlaub auf dem Fußboden. Der Kommissar fluchte.
»Störe ich?«, fragte Frau Ehrat vorsichtig.
»Nein, schon gut. Ich komme. Es wird schon irgendwie … und sonst rufe ich nochmals an.«
»Das ist schön. Ich werde Sie an der Pforte beim Haupteingang abholen.«
Madame Ehrat bedankte sich nochmals auf das Herzlichste, dann legte Eschenbach auf. Was um alles in der Welt brachte Theo dazu, ihn einzuladen? Kaffee und Kuchen, das war wohl ein Witz. Nach all den Jahren. Es musste mehr dahinterstecken.
Nachdem er den Rest des Tages mit Bürokram und Telefonaten verbracht hatte, mit Dingen, die er längst hätte erledigen sollen, traf er sich abends mit seinen Freunden im Schafskopf zum Kartenspiel.
Er hatte mehr als genug intus, als er gegen eins in seine Wohnung zurückkam. Aber einschlafen konnte er trotzdem nicht. Er saß vor dem Fernseher und zappte zwischen Indiana Jones und einer Operninszenierung von Don Giovanni hin und her. Endlich, gegen drei, fiel er in einen unruhigen Schlaf.
In Gummistiefeln schlich er durch die Kellergewölbe der ETH. Die Räume waren nach dem Satz des Pythagoras angeordnet: rechtwinkliges Dreieck und drei Quadrate. Im größten Quadrat lag Albert Einstein tot zwischen zwei Eichenfässern. Gegenüber stand ein großes Weinregal. Das erste Fach war leer. Im zweiten lag eine Flasche, im dritten ebenso. Im vierten lagen zwei, dann drei, fünf, acht, dreizehn, einundzwanzig Flaschen … die Fibonacci-Folge! Der Mann, der ihm das zurief, war sein alter Physiklehrer, Marcel Bornand. Er kroch aus einem der Eichenfässer, kam mit einer Daumenschraube auf ihn zu: »Wie lautet das erste Newton’sche Axiom?« Eschenbach blickte sich um; suchte Theo Winter. Den kleinen Theo, der immer neben ihm gesessen und alles gewusst hatte … Dann schrillte die Pausenglocke.
Eschenbach schreckte hoch, schaltete den Wecker aus und blieb mit den Erinnerungen an seine Schulzeit noch eine Weile liegen.
Theo war der Kleinste in der Klasse gewesen. Bleich, mit kraftlosen, hängenden Schultern und einer Brille, deren linkes Glas blind war. Eschenbach hatte nie begriffen, weshalb man die gute Seite abdeckte; warum man dem kranken, schielenden Auge die ganze Welt allein zeigen wollte. Das war vor fünfundvierzig Jahren gewesen, im Schulhaus Hegibach in Zürich.
Aus der Schule für Arbeiterkinder hatten sie es beide ans Gymnasium geschafft und später an die Uni. Der kleine Winter mit Biochemie an die Eidgenössische Technische Hochschule in Zürich; der Lange, Eschenbach, mit Jura nach Basel. Richtige Freunde waren sie nie geworden.
Von seinem Büro an der Kasernenstrasse war es nur ein kleiner Fußmarsch bis zum Central und zur Polybahn, die hinauf zur ETH führte. Eschenbach nahm sich Zeit. Für einen Abstecher zu Sprüngli im Hauptbahnhof; für zwei Buttersilserli und einen Sandwich mit Fleischkäse. Die Kleider, die er trug, waren neu: der dunkelgraue Wollmantel mit Fischgrat-Muster und die braune Cordhose. Er hatte zehn Kilo abgenommen, seit er alleine lebte. Das alte Zeug hatte an ihm gehangen wie an einer Vogelscheuche. »Du bist auf dem besten Weg zu lang und dürr «, hatte sein Freund Gregor beim Kartenspiel zu ihm gesagt. Gregor war klein und dicklich.
»Sie sind mir ein Vorbild«, zischte eine junge Mutter. Sie stand hinter ihm am Straßenrand; mit Kinderwagen und einem kleinen Jungen an der Hand.
Dann quietschten die Reifen eines Taxis.
Erst jetzt merkte der Kommissar, dass er mitten auf der Kreuzung stand und die Ampel Rot zeigte. Verlegen hob er die Hand mit dem Sandwich und rettete sich auf die andere Seite.
Bei der Polybahn vergaß er, ein Ticket zu lösen. Es kam ihm erst in den Sinn, als er bereits in der Kabine stand und der kleine rote Waggon das schmale Brückentrassee beim Seilergraben überquert hatte. So ging es mit ihm nicht weiter, so viel war klar. Junge Leute standen um ihn herum. In ausgelatschten Turnschuhen und spitzen Stiefeln. Dazwischen ein Mädchen mit schwarzen Lackschuhen, eine angehende Apothekerin, vermutete Eschenbach. Knapp vier Minuten dauerte die Fahrt durch graues, winterliches Geäst den Hügel hinauf. Puma und Adidas diskutierten die Eiweißverbindung eines
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