Eistod
weiß, Theo. Ihr seid hier einfach die Größten …«
»Und natürlich Wilhelm Conrad Röntgen«, fuhr der kleine Mann unbeirrt fort. »Und Felix Pauli! Das ist alles Stoff aus der Mittelschule! Theoretisch wenigstens … denn wenn ich daran denke, was die Studenten heutzutage mitbringen. Oder eben nicht mitbringen. Wir verkommen noch zu einer Realschule, hier oben am Zürichberg!« Er fuhr sich energisch durch sein kurz geschorenes Haar. Ein Feld von schwarzen und weißen Stoppeln, die sich von der mächtigen Stirn ausgehend nach hinten verdichteten.
»Ich bin Lateiner«, warf Eschenbach ein. »Und Jurist … aber wenn ich mich recht besinne, hat mich dein Assistent angerufen und kein Nobelpreisträger. Was war eigentlich los?«
Der kleine Mann lachte und winkte ab. »Ach der Koni … das war etwas überstürzt von ihm. Aber so ist er nun mal.«
»Du kannst es ja trotzdem erzählen.«
»Er hat gedacht, es sei bei ihm eingebrochen worden. Aber du kennst die jungen Leute ja. Sie lassen die Tür offen, gehen in die Ferien … und wenn sie nach Hause kommen, denken sie, jemand wäre in der Wohnung gewesen. Die Sache hat sich jedenfalls aufgeklärt.«
«Also wegen eines Einbruchs hat mich noch niemand angerufen.« Eschenbach war die Sache suspekt.
Winter wechselte das Thema. Eine Weile unterhielten sie sich über alte Zeiten. Eschenbach erzählte, wie es ihn nach dem Studium zur Kantonspolizei verschlagen hatte.
»Und was ist dein Spezialgebiet?«
Eschenbach streckte die Beine. »Kapitalverbrechen.«
»Mord und Totschlag also.«
»So ungefähr, ja.«
»Das wär nichts für mich.« Winter räusperte sich und sah auf die Uhr. »Ich brauch das Leben … auch wenn’s sich nur im Reagenzglas abspielt.«
»Wenn trotzdem noch etwas ist. Du weißt jetzt, wo du mich finden kannst.« »Es ist nichts, keine Sorge.« Winter erhob sich.
»Frau Ehrat kann dich hinunterbegleiten, wenn du willst. Es ist alles ein wenig verwinkelt in dem Kasten.«
Eschenbach freute sich auf die Sommersprossen und nickte.
»Und komm wieder einmal vorbei«, sagte der Professor noch. »Es hat mich gefreut, dich nach so langer Zeit wiederzusehen.« Sie gaben sich die Hand und Eschenbach verließ Winters Arbeitszimmer.
Madame Ehrat war nicht da. Keine Sommersprossen nirgendwo. Nur der dezente Hauch ihres Parfüms hing in der Luft.
Eschenbach suchte den Ausgang. Er folgte dem Wegweiser, der ihn zwei Treppen hinunter-, dann durch einen langen Korridor und am Ende wieder ein halbes Stockwerk hochschickte. Ein einziges Labyrinth aus Beton und Holz. Es war fast wie in seinem Traum. Plötzlich stand er vor einer beleuchteten Vitrine mit ausgestopften Vögeln. Der durchdringende Blick eines Steinadlers erinnerte ihn an Winter. Der Kommissar fluchte und machte kehrt. Seine Schritte hallten dumpf durch den Korridor. Von einem der Gänge sah er durch eine Glaswand in einen Fitnessraum; etwa dreißig junge Leute machten im Takt den Hampelmann. »Eins … zwei … drei«, prustete die Hampelfrau zuvorderst. In der dritten Reihe erkannte Eschenbach Frau Ehrat. Sie trug graue Schlabberhosen und ein rotes Top. Ihr kleiner Busen hüpfte. Der laute Bass drang durch die Glasscheibe und kitzelte Eschenbach in der Magengrube. Er ging weiter. Es folgten diverse Anschlagbretter, ein Schalter, auf dem in großen Lettern Mobility prangte, und eine Buchhandlung. Dann stand er vor der Mensa.
Eine stämmige Service-Angestellte aus dem ehemaligen Ostblock verhalf dem Kommissar zu einem Espresso: »Dort bekommen Sie Jetons. Die Maschine ist hier, Zucker da.«
Eschenbach lächelte linkisch und kramte ein Fünffranken-Stück hervor. »Könnten Sie mir nicht …«
»Ausnahmsweise, weil du so netter Herr …« Auch sie lächelte.
In dieser Umgebung, in der junge Leute mit Pullis und Laptops an den Tischen saßen und die Welt neu erfanden, klang »netter Herr« nach Altpapier.
Der Kommissar nahm den kleinen Pappbecher, setzte sich ans Fenster und dachte über das Gespräch mit Winter nach. Ihm war aufgefallen, dass der Professor Judith mit keinem Wort erwähnt hatte. Und er selbst hatte nicht den Mut aufgebracht, ihn auf Judith anzusprechen. Seit der Sache damals hatten sie nie mehr ein Wort gewechselt. Über dreißig Jahre waren vergangen und jetzt lud ihn Theo plötzlich ein, um über lauter Belanglosigkeiten zu plaudern. Eschenbach hatte ein merkwürdiges Gefühl. Lag wirklich nichts vor, wie der Professor ihm weismachen wollte? Ein Assistenzprofessor der
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