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Eistod

Eistod

Titel: Eistod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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ETH war schließlich kein kleiner Junge, der einfach die Tür offen ließ und wegen nichts die Polizei anrief. Er würde in den nächsten Tagen diesen Konrad Schwinn einmal anrufen. Die Sache begann ihn zu interessieren.

9
    »Die Klinik hat sich gemeldet«, sagte Rosa, als Eschenbach mit Schnee an den Schuhen und hochgestelltem Mantelkragen an ihr vorbei direkt auf sein Büro zusteuerte. »Sie meinten, man kann Frau Zgraggen jetzt besuchen.«
    »Ach ja?« Der Kommissar sah seine Sekretärin an: Sie war Anfang vierzig, von kräftiger Statur und hatte schöne, dunkle Augen. Ihre schwarzen, kurzen Haare glänzten. »Dann halt.« In Gedanken war er noch immer bei Winter. Er verspürte keinerlei Lust, jetzt ins Burghölzli, in die Psychiatrische Universitätsklinik der Stadt Zürich, zu fahren.
    »Ich hab Sie vorsorglich dort angemeldet«, meinte Rosa mit mitleidvollem Blick. »Heute Nachmittag um vier.« Die Brille, die sie nur zum Schreiben oder Lesen aufhatte, baumelte an einem goldenen Kettchen an ihrem Hals.
    Eschenbach seufzte. Er wusste, dass er die Gelegenheit nutzen musste. Die Bereitschaft der Ärzte, einer Befragung zuzustimmen, war so wechselhaft wie der Zustand der Betreuten selbst. Schon morgen konnte alles anders aussehen.

    Die Psychi, oder das Burghölzli, wie man im Volksmund sagte, lag auf derselben Hügelkette wie die ETH, etwas weiter südlich. Sie erinnerte in ihrer Bauweise von 1870 an ein Grandhotel aus dieser Zeit.
    Hier wie dort fanden berühmte Namen Einlass: Friedrich Glauser oder Albert Einsteins Sohn Eduard.
    Allerdings unterschieden sich die Behandlungsmethoden erheblich von jenen, die man den Feriengästen in Sils Maria oder Davos um die Jahrhundertwende zuteilwerden ließ: Wer sexuell zügellos, liederlich, homosexuell, vagabundierend, verkrüppelt oder sonst degeneriert zu sein schien (so der Originaltext von 1892 ), wurde kastriert oder – weil es meist Frauen waren – zwangssterilisiert. Diese Therapiemethode eugenischen Ursprungs, basierend auf dem Gedankengut der Rassenhygiene, fand damals enormen Beifall. Zu den Befürwortern dieser Ideen gehörten berühmte Schweizer Psychiater und Burghölzli-Direktoren wie August Forel, Eugen und Manfred Bleuler. Die renommierte Zürcher Nervenheilanstalt war eine Hochburg dieses Denkens – auch noch nach 1945 .
    Das alles stand nicht in der Broschüre, die Eschenbach durchblätterte, während er auf den Arzt von Maria Zgraggen wartete. Der Kommissar kannte die Geschichte des Burghölzli aus einem seiner früheren Fälle; und wie schon damals stieg ein Unbehagen in ihm hoch.
    »Eine halbe Stunde höchstens«, meinte Dr. Eberhard. Er sprach so langsam, als wollte er die erlaubte Gesprächszeit gleich selbst ausfüllen.
    Durch das Fenster im kleinen Gesprächszimmer sah man eine verschneite Baumgruppe. Frau Zgraggen starrte dort hinaus, als wollte sie ihre Geschichte ausschließlich den Föhren, Tannen und Fichten erzählen, deren Äste vom Gewicht des Schnees gegen den Boden gedrückt wurden. Eschenbach brauchte keine psychologische Ausbildung, um zu erkennen, dass die Verzweiflungstat und der selbst gewählte Tod ihres Mannes wie eine tonnenschwere Schuld auf ihr lasteten.
    »Hatten Sie noch häufig Kontakt zu Ihrem Mann?«, fragte er. Eberhard und er hatten an dem Tisch Platz genommen, an dem Frau Zgraggen saß.
    »Er kam immer wieder von sich aus …« Maria Zgraggen sah Hilfe suchend zu Dr. Eberhard.
    Der Arzt nickte zustimmend. »Nach der Trennung … und nachdem sich Martin Zgraggen immer wieder falsche Hoffnungen gemacht hatte, erlitt er mehrere schwere affektive Störungen.«
    »Depressionen?«
    »So ist es.«
    »Und war er deswegen in Behandlung?«, fragte Eschenbach.
    »Ja. In den drei Jahren seit der Trennung des Ehepaars Zgraggen hat er sich zweimal einer zweiwöchigen, stationären Therapie unterzogen. Dazwischen immer wieder ambulante Behandlungen und Gespräche.«
    »Und Medikamente?« Eschenbach suchte in seiner Jacke nach der Packung, die er in der Küche des Toten gefunden hatte. Als er sie nicht finden konnte, klopfte er seinen Mantel danach ab. Zusammen mit einer Schachtel Brissago fand er sie schließlich in einer der Innentaschen. Er legte das Medikament auf den Tisch. » Prozac – sagt Ihnen der Name etwas?«
    Dr. Eberhard runzelte die Stirn. »Woher haben Sie das?«
    »Das lag gleich stapelweise in seiner Wohnung.«
    »Ich weiß nicht …« Der Arzt zuckte die Schultern. »Der Handelsname dieses Medikamentes in der

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