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Eistod

Eistod

Titel: Eistod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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diesem Lächeln im Kopf simulierte Schwinn am Computer das Periodensystem bei unterschiedlichen Temperaturen.
    Natürlich würde er mit diesem Geistesblitz nicht die Welt verändern. Nicht so wie James Watson mit dem seinen. Beim Anblick einer Wendeltreppe war ihm die Idee einer Doppelhelix gekommen. Zusammen mit Francis Crick hatte er als Erster die Grundstruktur des menschlichen Erbguts, der DNA, entschlüsselt. Auch war der Einfall nicht vergleichbar mit den zündenden Gedanken von Robert Wilhelm Bunsen, die züngelnden Flammen eines Kaminfeuers hatten ihn auf die Molekularstruktur von Benzol kommen lassen.
    Und doch: Schwinn hatte dieses elektrisierende Gefühl, etwas gefunden zu haben, das immer da gewesen und dennoch nie beachtet worden war. Der Tee in der Tasse neben dem Laptop wurde kalt, und er fand, wonach er so lange gesucht hatte: den letzten Zacken am Schlüssel, mit dem er den Code knacken konnte.
    Bei einer Raumtemperatur von 20 Grad war das Element Chlor (Cl) ein Gas, während es aufgrund eines Siedepunktes von minus 34 , 6 Grad Celsius, bei genügend tiefer Temperatur also, flüssig wurde. Schwinn rechnete das Periodensystem auf minus 37 Grad um. Es funktionierte. Die Körpertemperatur des Menschen mit umgekehrtem Vorzeichen, das war der Schlüssel. Die Liste füllte sich mit Personen- und Ortsnamen.
    Dort, wo die decodierten Buchstaben keinen Sinn ergaben, setzte Schwinn die Leitzahl des Elements im Periodensystem ein: Es ergaben sich Zahlen, die der Assistenzprofessor als Postleitzahl, Körpergewicht und Verabreichungsmenge deutete.
    Ein Problem war nur noch die Null. Sie kam als Leitzahl nicht vor. Schwinn fand jedoch rasch heraus, dass an ihrer Stelle die Position 100 des Periodensystems fungierte. Somit hatte er auch dafür die Lösung gefunden:
    Aus OFmFmH ZnUuuErRbInClHg wurde 8001 Zürich, der erste Kreis der Limmatstadt.
    Als er die Listen entschlüsselt hatte, war es vier Uhr morgens. Schwinn war mit seiner Arbeit zufrieden. Das Ergebnis war eine Reihe von Namen, die ihm nichts sagten: Pavel Navrilinka, Dragan Matjorewic, Ivan Petric … Vermutlich Leute aus dem ehemaligen Ostblock, dachte er. Aus den Provinzen Ex-Jugoslawiens, aus Rumänien, Bulgarien und dem Kaukasus. Auch weniger Exotisches war dabei: Erich Hollenstein zum Beispiel stand auf der Liste und Armin Gygax. Diese Namen sagten ihm auch nichts. Die Zusammensetzung erinnerte an eine x-beliebige Fußballmannschaft. Vermutlich würde man die Namen auch alle beim Quartierverein von Zürich-Schwammendingen antreffen oder in den Baracken auf den Großbaustellen. Doch weshalb fanden sich diese Leute auf einer Liste wieder? Hatten sie etwas gemeinsam?
    Was ihm fehlte, waren genaue Adressen. Es gab keine Straßennamen und Hausnummern; nur Orte mit der dazugehörigen Postleitzahl und Stadtkreise oder kleinere Gemeinden auf dem Land. So konnte er die Leute nicht ausfindig machen.
    Der Assistenzprofessor begann die Namen im Internet zu suchen; tippte sie in die gängigen Suchmaschinen und elektronischen Telefonverzeichnisse. Er fand nichts. Einen Moment zweifelte er daran, dass diese Leute überhaupt existierten. Vielleicht hatte er den Code doch falsch interpretiert? Oder war das alles eine Sackgasse, in die er sich verrannt hatte?
    Als er die Liste nochmals durchging, sah er es: das Heimatlose, das sich hinter den Einträgen verbarg, als hätte man jeden Einzelnen aus einem Ganzen herausgerissen. Sie waren Elementarteilchen – Elemente ohne Verbindungen. Und das Periodensystem war nicht nur der Schlüssel dazu, sondern gleichsam eine Allegorie.
    Konrad Schwinn lag lange wach und dachte über alles nach. Was verbarg sich hinter dieser Liste, die er im Anhang des Proetecin -Berichtes gefunden hatte, und vor allem, wer war ihr Verfasser? War es Meiendörfer selbst? Schließlich hatte er die Studie in dessen Mappe gefunden. Obwohl sie sich von der ETH kannten und sich auch später im Rahmen von Militärübungen immer wieder getroffen hatten: Schwinn wusste kaum etwas über ihn. Wo arbeitete er überhaupt? Für einen Biochemiker war es naheliegend, dass er bei einem der Pharmamultis untergekommen war. Und so vehement, wie Winter auf seine Bemerkung reagiert hatte, konnte es durchaus sein, dass man hinter seinem Rücken mit diesen Leuten zusammenarbeitete. Mit Proetecin würde sich einmal viel Geld verdienen lassen, da war er sich sicher. Über diesem Gedanken schlief er ein.
    Am nächsten Morgen rief Schwinn im ETH-Versuchslabor in

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