Eistod
Antwort.
Tatsächlich war es so, wie Rosa gesagt hatte: Die Arbeit war brillant. Aus über hundert mehr oder weniger fussligen Aussagen war eine gescheite Arbeitshypothese kondensiert worden. Vier Zeugenaussagen wurden als besonders wichtig klassifiziert und mit drei Zeugen war nochmals Kontakt aufgenommen worden. Zusätzlich hatte Pestalozzi fünf weitere Personen befragt, die sich ursprünglich zwar nicht gemeldet hatten, für das Gesamtbild aber entscheidend waren. »Verifikationen« nannte er sie. Insgesamt isolierte er sechs Personen als »für den Fall relevant«. Alle ihre Aussagen waren fein säuberlich protokolliert und als Anhang beigelegt.
Zwei Grundannahmen formulierte Pestalozzi in seiner Zusammenfassung: Die erste besagte, dass es sich beim Toten um einen Bau- oder Landarbeiter handeln könnte (Telefonnotiz eines Gesprächs mit Salvisberg, unter anderem mit Hinweisen auf Schwielen an Händen, Knien und Füßen). Die zweite legte die Vermutung nahe, dass das Opfer auf einer Großbaustelle in Zürich arbeitete (vermutlich schwarz) oder dort anheuern wollte (Aussage eines Arbeiters, der das Opfer bei der »Sihl-City« gesehen haben wollte).
Kein schlechter Anfang für einen Toten, den man erst zwei Tage zuvor ohne Ausweise aus der Limmat gefischt hatte. Trotzdem, es war lediglich eine Vermutung – ein kleiner Strohhalm, an dem man sich festhalten konnte.
»Sihlcity« war bekannt als die größte Baustelle der Schweiz. Ein gewaltiges Vorhaben im Süden der Stadt, an dem über tausend Leute, Architekten, Bauarbeiter, Lieferanten et cetera, beteiligt waren. Der Bauherr war die zweitgrößte Bank im Land; man zog auf einem Areal von hunderttausend Quadratmetern mit fünf gigantischen Schwenkkränen eine Betonstadt in den Himmel. Einen Komplex aus Bürogebäuden, Wohnungen und Läden.
Es brauchte keine überbordende Fantasie, um sich vorzustellen, dass man die Bauarbeiter busweise von überall her dorthin karrte und dass der eine oder andere Ausländer in diesem zementierten Moloch keine gültige (oder eine gefälschte) Arbeitserlaubnis besaß. Eschenbach graute davor, in schlecht geheizten Baracken herumzustehen, angelogen zu werden, kein Serbisch, Moldawisch oder Türkisch zu sprechen und dennoch alles herausfinden zu müssen.
Der Kommissar sah auf die Uhr, es war zehn nach eins. Er hatte Hunger, nahm seinen Mantel und verließ das Büro. Sieben Leute standen vor dem Aufzug. Eschenbach nahm die Treppe. »Das gibt einen knackigen Hintern«, hatte Corina immer behauptet. Allerdings meinte sie das Hoch-, nicht das Hinuntersteigen. Als er ins Freie trat, empfing ihn der Nebel. Wenigstens schneite es nicht mehr, dachte er. Dann ging er quer durch die Innenstadt bis zum Bürkliplatz. Eine Bratwurst wärmte seine klammen Finger; kauend sah er auf den See hinaus. Nach ein paar Metern verlor sich das Wasser im milchigen Nichts. Das Ende der Welt, so kam es ihm vor – und nach einer Weile fragte er sich, warum die Möwen keine farbigen Federn trugen.
Auf dem Rückweg aß er beim Coop an der Ecke St. Anna-Strasse noch einen Schüblig. Neben ihm standen zwei junge Frauen in langen, dunkelbraunen Pelzmänteln (wahrscheinlich Zobel) und Moonboots von Dior und unterhielten sich in einer fremden Sprache – war es Russisch? Lettisch? Litauisch? –, sie löffelten ein undefinierbares Nudelgericht aus einer weißen Plastikschale. Vermutlich ist Zürich jetzt doch eine Weltstadt geworden, dachte Eschenbach; dann erinnerte er sich daran, dass er für den Abend noch ein Thai-Restaurant ausfindig machen musste.
»Sie mögen doch gar kein Thai-Food«, sagte Rosa, nachdem er sie gefragt hatte, ob sie denn ein solches Lokal kenne.
»Probieren kann ich es ja«, brummte der Kommissar.
»Also wenn Sie scharfes Essen mögen, dann müssen Sie unbedingt den Papaya-Salat im Blue Monkey …«
»Ich mag überhaupt keinen Salat«, unterbrach er sie.
»Dann nehmen Sie das rote Curry … oder ein Gai Satay.« Eschenbach kritzelte die Namen in sein Notizbuch. »Und wo ist dieses Blue Monkey?«
»Stüssihofstadt«, kam es wie aus der Pistole geschossen.
»Das ist bei diesem Dings …«
»Ja, dort … etwas weiter unten Richtung Limmat.« Rosa lächelte.
Das Stüssihof war ein stadtbekanntes Pornokino im Niederdorf. Eschenbach nickte.
»Soll ich für Sie reservieren?«, fragte Rosa. »Ein Tisch für zwei?«
»Ich mach das schon«, grummelte der Kommissar.
»Wie Sie wollen. Ich kann Ihnen die Nummer geben …«
»Also
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