Eistod
einem alten Typen wie ihm ins Bett zu gehen. Freiwillig und ohne Bezahlung. Er hatte das nie begriffen; schon damals nicht, als er mit siebzehn zum ersten Mal den Faust gelesen und das Mädchen, das er gerne ausgeführt hätte, etwas mit einem verheirateten Mann gehabt hatte.
Während er darüber nachdachte, beobachtete er Juliet; wie sie mit angezogenen Beinen neben ihm lag und schlief. Das stille Auf und Ab ihres zierlichen Körpers. Die helle Haut, ihre rotblonden, kurzen Strähnen, die sich feucht von der Liebe auf ihrer Stirn kräuselten und im warmen Licht der Kerze glänzten. Ihm fiel auf, wie lang und geschwungen ihre Wimpern waren. Er küsste sanft ihre Lider.
Es war schön. Nicht nur deshalb schön, weil sie ihn an Judith erinnerte, ihn nochmals zwanzig werden und Corina und den Trennungsschmerz in den Hintergrund treten ließ. Eschenbach hatte das Gefühl, wieder geliebt zu werden. Das war es.
Der Kommissar lag noch lange wach. Manchmal schloss er die Augen für einen Moment, um ihren Duft einzuatmen und um nachzusehen, ob die Bilder dieser Nacht ihm bleiben würden. Und irgendwann später, viel später, schlief auch er ein.
15
Es gibt Tage, an denen einen nichts aus der Ruhe bringt: kein verlorenes Portemonnaie, kein verpasster Termin beim Zahnarzt – nicht einmal eine verstopfte Kloschüssel! Alles Kleinigkeiten, dachte Eschenbach. Winzigkeiten im großen Lauf der Zeit.
»Nicht gerade Ihr Tag heute«, sagte Rosa, nachdem sie ihm für die zahnärztliche Kontrolle einen neuen Termin besorgt und aus der Kasse für Büromaterial hundert Franken geliehen hatte.
»Doch, doch. Heute ist mein Tag, Frau Mazzoleni!« Er sagte es ohne Trotz, mit einem milden Lächeln. Dann blätterte er sich durch die Morgenpost. Er dachte an das Frühstück mit Juliet. Das erste Mal, dass er nicht allein irgendetwas in sich hineingelöffelt hatte; das erste Frühstück am Bett, seit einer Ewigkeit! Er hatte für sie beide Kaffee gekocht, Brote gestrichen und aus den Früchten, die er in Juliets Küche gefunden hatte, ein Birchermüsli gezaubert. Vermutlich hätte er – wäre die Zeit nicht zu knapp gewesen – auch noch Bäume ausgerissen und auf dem kleinen Balkon einen Schneemann gebaut.
In der Tram beim Stauffacher hatte sie ihn zum letzten Mal geküsst; leidenschaftlich und rücksichtslos. Eschenbach hatte nicht anders gekonnt, als an die anderen Fahrgäste zu denken, an die Scheu, die mit dem Alter gekommen war, und daran, dass alles nicht zusammenpasste. Als er die Tram verlassen und alleine den Weg Richtung Präsidium eingeschlagen hatte, war er gleichsam erleichtert und beglückt gewesen.
Nachdem er die Morgenpost durchhatte, rief er im Institut für Rechtsmedizin an. Die Sekretärin von Salvisberg teilte ihm mit, der Professor käme erst am Nachmittag zurück. Und als er etwas später die Vermisstenstelle anrief, sagte man dort, dass es weder zum vermissten Konrad Schwinn noch zum Toten aus der Limmat Neues zu berichten gäbe. Seufzend nahm er sich Pestalozzis Dossier zu den Befragungen auf der Baustelle Sihlcity vor.
Kurz nach zehn Uhr kam Kobler. Der Kommissar hörte ihre Stimme schon von Weitem. »Ist er da?«, trompetete es vom Gang.
Portemonnaie, Zahnarzt, Kloschüssel – vermutlich geht das jetzt so weiter, dachte Eschenbach.
Elisabeth Kobler kam mit offenem Pelzmantel und ohne anzuklopfen. »Ich bin enttäuscht«, sagte sie, zog einen Stuhl vor Eschenbachs Schreibtisch und setzte sich.
»Von was?«
»Von Ihnen!« Sie stand wieder auf und zog den Pelz aus.
»Ein Weihnachtsgeschenk?« Der Kommissar deutete auf den Nerz, der wie ein erlegter Bär vor ihm auf dem Tisch lag.
»Ich bin jetzt nicht zu Späßen aufgelegt, Eschenbach!« Der Kommissar schwieg.
»Wenn das so weitergeht, entziehe ich Ihnen den Fall.« Die Polizeichefin saß wieder.
»Welchen Fall?«
»Winter«, zischte Kobler. »Professor Winter natürlich.«
»Professor Winter ist ein Fall?«
»Die Sache mit dem vermissten Assistenten … Konrad Schwinn, heißt er, glaube ich. Das meine ich.« Kobler zupfte ungeduldig an ihrem hochgesteckten Haar. »Sie haben nichts … aber auch gar nichts!«
»Das ist auch nicht unsere Angelegenheit – eigentlich.« Eschenbach wunderte sich. Zuerst hatte Winter die Sache heruntergespielt und jetzt, wie aus dem Nichts, wurde sie zur Staatsaffäre erhoben.
»Doch! Das ist es«, widersprach Kobler. »Es ist unser Fall!«
»Wir haben eine Suche veranlasst … im System ist er auch. Also wenn
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