Eistod
gut – für heute Abend um halb acht.«
Um zwanzig nach fünf stand Eschenbach am Hauptportal der ETH und pünktlich um halb sechs kam Frau Ehrat. Sie trug Jeans und einen sandfarbenen Plüschmantel, der ihr bis zu den Knien reichte. Von Weitem winkte sie Eschenbach zu.
Zur Begrüßung küssten sie sich spontan auf die Wange.
»Also, ich bin Juliet«, sagte sie. »Frau Ehrat ist doof – klingt wie sechzig, finde ich.«
»Eschenbach klingt wie einundfünfzig«, sagte er.
»Eben.«
Sie lachten und duzten sich.
»Wollen wir zu Fuß …«, sagte sie, während der Kommissar auf die Station der Polybahn zusteuerte. Aufmunternd zog sie ihn am Ärmel in die entgegengesetzte Richtung.
»Okay.«
Sie schlenderten bis zum Sempersteig und stiegen die Stufen hinunter bis zum Hirschengraben. Manchmal, wenn sie mit ihren Stiefeletten ausrutschte, hielt sie sich an Eschenbachs Schulter fest.
»Ist es weit?«, fragte sie.
»Bis zur Schifflände.«
»Und dort nehmen wir das Schiff?« Sie klang unternehmungslustig.
»Nein, ein Wasserflugzeug … dann fliegen wir über die Alpen.« Er sah auf seine Uhr: »So gegen halb neun sind wir in Nizza. Ich kenne dort ein kleines Restaurant am Meer. Die machen den besten Papaya-Salat außerhalb von Thailand.«
»Wow!« Juliet schnalzte mit der Zunge. Dann legte sie einen kurzen Moment ihren Kopf an seine Schulter und sagte: »Schön wär’s.«
Noch immer eingehakt, gingen sie über den Predigerplatz und entlang der Niederdorfstrasse. Vorbei an alten Häusern, die mit Lichterketten festlich beleuchtet waren, und an kleinen, schmucken Schaufenstern mit Musikdosen, Zinnsoldaten und antikem Schreibzeug. Hie und da blieben sie stehen, betrachteten eine Auslage besonders genau und fanden die nutzlosesten Dinge schön. Wenn sie einmal nichts sagten, hörte man das Knirschen im Schnee. Und bei jedem Knirschen, im Rhythmus ihrer Schritte, berührten sich ihre Schultern.
Es war ein besonderer Abend gewesen. Eschenbach hatte zum ersten Mal in seinem Leben Papaya-Salat probiert – eine ganze, gottverdammte Gabel voll. Danach war er mit vollem Mund und brennendem Gaumen quer durchs Blue Monkey zur Herrentoilette gerannt. Als er nach einer Weile zurückgekommen war, sich wieder an den Tisch gesetzt und ihr ein heiseres »Du bringst mich noch um« zugeflüstert hatte, war Juliet kurz aufgestanden, hatte sich zu ihm hinübergebeugt und ihn auf den Mund geküsst.
Falls man Glück daran erkennen konnte, dass es einem das Gefühl für die Zeit stahl, dann musste es an diesem Abend mit ihnen am Tisch gesessen haben. Denn als der Kellner gegen ein Uhr zum dritten Mal zwei zusammengerollte, heiße Frotteetüchlein brachte und auf die Rechnung schielte, merkten sie, dass sie die letzten Gäste im Lokal waren.
Sie schlenderten über die Rathausbrücke. Auf dem Dach des Frauenmünsters lag Schnee; der Kirchturm sah unter seiner weißen Kapuze aus wie ein Großmeister des Ku-Klux-Klan. Finster blickte er auf die umliegenden Häuser hinunter. Als Juliet zu frösteln begann, legte Eschenbach seinen Mantel um ihre schmalen Schultern, und etwas später, als sie dem Heiri-Steg entlang der Limmat folgten, drückte er sie behutsam an sich.
Beim Hauptbahnhof stiegen sie in ein Taxi.
»Du kommst doch noch mit nach oben, oder?« Juliet lächelte Eschenbach an, während er ihr die Hand entgegenstreckte und aus dem Wagen half.
»Besser nicht«, sagte er lächelnd. Dann begleitete er sie die paar Schritte bis zur Haustür und küsste sie zum Abschied auf die Stirn.
Einen Moment blieb sie dort stehen, sah dem Kommissar zu, wie er zurück zum Taxi ging. Seinen Mantel hatte sie immer noch um. Er reichte ihr bis zu den Knöcheln, und so wie sie ihn um sich gewickelt hatte, sah es aus, als stecke sie in einer Teppichrolle. »Sturer Hund!«, rief sie lachend in Richtung Taxi.
»Sturer alter Hund«, kam es zurück. Dann stieg er ein und nannte das Fahrziel.
»Sind Sie sicher?«, fragte der Taxifahrer.
»Alte Schule eben.« Eschenbach schob den Unterkiefer vor: »Fahren Sie!«
Kaum war das Taxi vom Bordstein auf die schneebedeckte Straße geglitten und ein paar Meter gefahren, überlegte es sich der Kommissar plötzlich anders. »Bitte halten Sie an. Vielleicht …« Er beglich die Rechnung und stieg aus.
Juliet hatte seinen Mantel immer noch um, als sie ihm die Tür öffnete. Mit einem leisen Lachen fiel sie ihm um den Hals.
Eschenbach wusste nicht, was eine fünfundzwanzigjährige Frau dazu bewog, mit
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