Eistod
ging die paar Schritte zurück ans Bett und küsste ihre Tochter auf die Stirn.
Im Flur war es fast dunkel. Nur Streulicht fiel durch die Glaswand des Schwesternzimmers und erhellte den Korridor. Ein Rosenstrauß auf einem Beistelltisch warf einen gespenstischen Schatten an die Wand. Wolfgang war nirgends auszumachen.
Burri gab der Nachtschwester seine Notrufnummer, dann nahmen sie den Lift ins Erdgeschoss.
»Ich werde mich gleich morgen früh nach ihr erkundigen«, sagte der Arzt, als sie draußen auf dem Parkplatz standen. »Es wird schon gut.« Zum Abschied legte er Corina die Hand auf die Schulter.
Eschenbach sah seinem Freund zu, wie er durch den Schnee zum Auto stapfte. Dann drehte er sich zu Corina um und fragte leise: »Soll ich dich nach Hause bringen?«
»Ich weiß nicht …« Sie vergrub die Hände in den Taschen ihres Wintermantels und hob die Schultern: »Wolfgang … vielleicht ist er schon gefahren.«
Einen Moment lang sahen sie sich schweigend an. Dann bemerkte der Kommissar die beiden Halogenlichter, die sich vom Parkplatz her langsam näherten. Als der dunkle Wagen auf ihrer Höhe war, öffnete Wolfgang die Beifahrertür.
»Man hat dich nicht vergessen«, murmelte Eschenbach. Er küsste Corina zum Abschied auf die Wange.
»Das ist ja entsetzlich«, sagte Rosa, als ihr der Kommissar am nächsten Tag von Kathrin erzählte; von seinem Besuch im Spital, von den Schläuchen und den Monitoren.
»Heute Morgen, als ich dort war, ging es ihr schon besser. Sie hatte die Augen geöffnet … zwischendurch jedenfalls. Und gelächelt hat sie auch.« Der Kommissar fuhr mit dem Finger über den Rand seiner Espressotasse. »Der Stationsarzt meint, es gehe langsam wieder aufwärts.«
»Zum Glück!« Rosa nahm ihre Brille ab, ließ sie am goldenen Kettchen baumeln und pflückte die Serviette weg, die neben einem Teller mit Croissants lag. Sie tupfte sich einen Augenwinkel. »So ein junges, hübsches Mädchen …« Und nach einer Weile fügte sie noch hinzu: »Sie essen zu wenig, heutzutage.«
»Wem sagen Sie das.« Eschenbach schmunzelte.
»Und Sie? Sie essen auch nichts!« Rosa deutete auf die Croissants. »Die habe ich vom Sprüngli am Bahnhof.«
»Sie sind ein Goldschatz.« Er nahm sich einen Gipfel, biss die Hälfte ab und murmelte mit vollem Mund: »Die Haare hat sie sich färben lassen. Sind jetzt schwarz … und kürzer.« Er schaute seine Sekretärin an: »So wie Ihre.«
»Aha.«
»Eben. Das kommt noch dazu.«
»Schwarz und kurz ist immer gut«, sagte Rosa. »Ist übrigens wieder groß im Kommen.« Sie fuhr sich ordnend durchs Haar.
»Schwarz?«
»Nein, kurz. Aber von Mode verstehen Schweizer Männer nichts.«
»Im Gegensatz zu den Italienern, ich weiß.« Der Kommissar nahm sich ein zweites Croissant. »Von Mode nichts, vom Fußball nichts und nichts vom Essen. Eigentlich verstehen wir von überhaupt nichts etwas.«
»Doch! Von Politik und Polizeiarbeit. Manchmal jedenfalls.« Rosa setzte sich die Brille wieder auf und deutete auf den Tagesanzeiger , der neben Post und Kaffeegeschirr auf dem Schreibtisch lag. »Haben Sie das auch gesehen?«
»Den Tagi ? Nein«, sagte Eschenbach. »Ich lese nur Modezeitschriften.«
»Es ist nicht zum Lachen«, sagte Rosa. »Im Inlandteil, eine ganze Seite. In Zürich sterben die Randständigen weg, steht da. Die Kälte und der Schnee. Man lässt sie einfach erfrieren.
Und so wie ich den Artikel verstanden habe, ist mit Kälte nicht nur die Temperatur gemeint. Das alles wirft ein ganz schlechtes Licht auf unsere Stadt, unser Sozialsystem … Sie wissen schon.«
»Ach was«, sagte Eschenbach. »Das sind Einzelfälle. Unglücksfälle. Kürzlich beim Grieder, da bin ich zufällig dazugekommen. Ein armer Hund in der Passage und jetzt bauschen es die Medien auf. Typisch.«
»Zwölf Tote in vier Wochen, haben die geschrieben«, sagte Rosa. »Das ist nicht typisch. Lesen Sie es.« Sie stellte die Espressotassen auf den leeren Teller, hob ihn vorsichtig hoch und ging.
18
Zuerst telefonierte der Kommissar mit Adrian Conzett, dem stellvertretenden Leiter der Stadtpolizei. Adrian war zwei Jahre zuvor zur Stapo gekommen, als Quereinsteiger. Er war früher ein höherer Beamter im Justiz- und Polizeidepartement gewesen. Beim Bund, verantwortlich für das Beschaffungswesen. Seit die Schweizer Armee von rund sechshunderttausend Angehörigen auf ein Drittel zusammengestrichen worden war, gab es dort immer weniger zu beschaffen. Ein »Stumpengleis«, meinte
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