Eistod
Conzett. Der junge, ehrgeizige Mann, den Eschenbach bei einem Seminar kennengelernt hatte, war unterfordert. So zielgerichtet, sachlich und spröde, wie Conzett war – Eschenbach fand ihn nicht unsympathisch.
Auch Conzett wusste kaum etwas über die Geschichte in der Zeitung. »Ein paar der Fälle kenne ich«, hatte er gesagt. »Aber das Ausmaß überrascht mich.«
Dann telefonierte Eschenbach mit der zuständigen Stelle im Sozialdepartement. Die Leitungen waren besetzt. »Kunststück, bei dieser Presse«, murmelte er. Nachdem auch zwei weitere Versuche erfolglos geblieben waren, rief er Rosa.
»Also doch«, sagte sie.
»Nix doch.« Eschenbach löste mit dem Brieföffner die Zellophanpackung einer Schachtel Brissago. »Besorgen Sie mir den Artikel, dann werden wir weitersehen. Es kann doch nicht sein, dass weder wir noch die Stadtpolizei ausführlich über die Sache orientiert wurden.« Der Kommissar steckte sich einen Zigarillo in den Mund. »Gloors Departement ist ein Sauladen … und jetzt will ich mal wissen, was dort vor sich geht.«
»Kennen Sie Kurt Gloor denn?« Rosa blickte fragend über den Brillenrand.
»Seine Frau.« Eschenbach, der in der obersten Schublade nach Streichhölzern suchte, dachte an den Abend bei Burri. »Und das reicht mir völlig.«
»Aha.«
»Und wenn ich schon dabei bin, was macht eigentlich unser Tenor?«
»Bariton«, korrigierte Rosa. »Herr Pestalozzi recherchiert in Sachen Winter.«
»In was?« Eschenbach sah verdutzt auf. Die Packung Streichhölzer in seinen Händen war leer.
»Der vermisste Assistent, Sie wissen doch …«
»Hm.«
»Sie haben gesagt, man könnte ihn damit beschäftigen.«
»Hab ich das?«
»Und dass er dann weg ist, das haben Sie auch noch gesagt.«
»Ja, eben«, knurrte er. Zum einen war es dem Kommissar recht, dass Pestalozzi aus seinen Augen verschwunden war; obendrein noch mit einer Sache, in der sich kaum Schaden anrichten ließ. Zum andern widerstrebte es ihm, dort die Kontrolle abzugeben, wo das Vertrauen fehlte. »Hat er schon etwas?«, fragte er.
»Das weiß ich nicht.« Rosa lächelte. »Aber so wie ich ihn einschätze, wird er schon etwas finden.«
»Soso.« Der Kommissar ließ den Kopf ins Genick fallen und blickte zur Decke: »Dann bin ich aber gespannt.«
Auf dem Weg zum Zeughauskeller kaufte Eschenbach bei Zigarren Dürr fünf kleine Feuerzeuge, rote und blaue. Als er schließlich im Restaurant angekommen war, wartete Juliet schon auf ihn. Sie strahlte dieselbe Fröhlichkeit aus, die Eschenbach hatte verdrängen wollen: Sommersprossen, ein Lachen, hinter dem sich nicht ein einziger Vorwurf verbarg.
»Ich hätte anrufen sollen«, sagte der Kommissar und warf einen Blick in die Speisekarte.
Juliet bestellte einen Salat mit Poulet-Streifen und erzählte vom Institut: dass Winter viel um die Ohren hatte und sie ihn kaum zu Gesicht bekam.
Bei Manzo Brasato und einem Tessiner Merlot hörte der Kommissar aufmerksam zu. Er verfolgte die Gestik ihrer schönen Hände und die Bewegung ihrer Lippen. Selbst die kleinen Dinge des Lebens hörten sich bei Juliet so spannend an, als wäre Hannibal gerade dabei, ein zweites Mal die Alpen zu überqueren.
»Du hast einen netten Assistenten«, sagte sie beiläufig, als sie beim Dessert waren.
»Ach, tatsächlich?« Der Kommissar steckte den Löffel in das Stück Tiramisu und horchte auf.
»Ja, Tobias Pestalozzi. Ich finde, er sieht gar nicht aus wie ein Polizist.«
»Und der war bei euch im Institut?« Er trank den Espresso in einem Schluck.
»Nicht bei mir … bei Professor Winter. Vermutlich wegen Schwinn, aber das wirst du ja besser wissen als ich. Ich glaube, er nimmt seine Sache sehr ernst.«
»Soso.« Eschenbach rief den Kellner. Er bestellte einen Grappa und einen grünen Tee für Juliet. »Und die haben miteinander gesprochen.«
»Sicher!« Juliet musste lachen. »Sag nur, du weißt nichts davon.«
»Doch, doch.« Auch der Grappa verschwand in einem Zug.
»Ich hatte nur noch keine Zeit, mich mit Pestalozzi darüber zu unterhalten.«
»Ehrlich? Das war vor drei Tagen.« Eschenbach fuhr sich durchs Haar.
Juliet sah ihn schweigend an. Dann sagte sie: »Hast du Sorgen? Ich meine, kann ich dir irgendwie …« Sie nahm seine Hand.
Nach einem kurzen Zögern erzählte der Kommissar ihr die Geschichte mit Kathrin: wie sie dagelegen hatte, bleich und mit geschlossenen Augen. Und wie schrecklich klein ihm alles vorgekommen war neben der großen Angst, der Angst um ihr Leben.
»Aber
Weitere Kostenlose Bücher