Eistod
Wespennest zu stechen?
»Sie sitzen ja im Dunkeln.« Rosa kam mit Espresso und knipste das Licht an.
»Wenn’s um vier dunkel wird, möchte man sterben«, sagte der Kommissar und gähnte.
»Jetzt tun Sie mal nicht so. Am Nordpol wird’s erst gar nicht hell. Ich kann jammernde Männer nicht ausstehen.«
Eschenbach nahm einen Schluck und sagte: »Ich auch nicht, das ist etwas ganz Grässliches …« Sie schüttelte den Kopf, und als sie sich zum Gehen wandte, sagte er: »Vergessen Sie die Geschichte mit Pestalozzi …«
Rosa stutzte: »Also doch. War Frau Kobler deshalb bei Ihnen?«
»Ja.«
»Und was bedeutet das?«
»Tun Sie nicht so, Frau Mazzoleni! Als ob Sie es nicht selbst wüssten. An der Geschichte ist was dran. Und ich weiß auch schon, wie wir damit umgehen.«
»Ach ja? Und wie bitte?«
»Das sage ich Ihnen, wenn es so weit ist.«
Rosa zog einen Schmollmund und verließ das Büro.
Eine halbe Stunde später rief Juliet an. »Sag, weißt du, wo Winter ist?«, fragte sie besorgt. »Ihr wart doch essen, oder? Und um Viertel nach fünf hat er Vorlesung …«
»Dann hat er noch eine halbe Stunde.«
»Eben. So spät kommt er sonst nie. Er schaut vorher immer noch ins Skript.«
»Er ist gleich nach dem Essen den Hügel rauf.« Eschenbach sah nochmals auf die Uhr. »Das ist allerdings schon zwei Stunden her.«
»War’s denn gut?«, wollte Juliet wissen.
»Das Essen oder Winter?«
»Beides.« Sie lachte.
»Er hat die meiste Zeit geredet, du kennst ihn ja. Schien gut gelaunt zu sein. Also, da war nichts, das mir besonders aufgefallen wäre.«
»Hm.«
»Er wird schon kommen«, sagte der Kommissar und kritzelte einen Blumenstrauß in seine Agenda. »Ich muss ihn unbedingt noch was fragen.«
»Er hat nur eine Stunde, du kannst ihn nach sechs erreichen.«
»Okay.«
In der folgenden Stunde telefonierte Eschenbach. Zwischendurch erkundigte er sich nach dem Mädchen. Sie war nicht gefunden worden. Das ganze Quartier rund um die Sihlporte hatten seine Leute abgesucht und mehr als zwanzig Leute waren befragt worden. Das Mädchen war wie vom Erdboden verschluckt.
Kurz vor sechs brachte Rosa ihm sein Handy und verkündete, dass sie nach Hause gehen würde. Dann rief Juliet wieder an. Winter war nicht gekommen. Nun machte sie sich ernsthaft Sorgen. Blaumachen ging an der ETH nicht. Nicht einmal für Studenten. Wenn eine Koryphäe wie Winter nicht erschien, war das, also ob die Sonne morgens nicht aufging. Eschenbach versuchte, Juliet zu beruhigen. Es gelang ihm nur halbwegs. Zerstreute Professoren gab es in dieser Welt angeblich genauso wenig wie Analphabeten. Am Ende einigten sie sich darauf, bis zum nächsten Tag zu warten. Er versprach, sie abends anzurufen. Wenigstens das.
Nachdenklich notierte Eschenbach auf einem Blatt Papier, wie er die Sache mit dem Sozialdepartement angehen wollte. Gegen sieben verließ er das Präsidium.
Vom Auto aus rief er Kathrin an. Endlich. Die ganze Zeit über hatte er ein ungutes Gefühl gehabt. Und jedes Mal, wenn er sie hatte anrufen wollen, war etwas dazwischengekommen. Er freute sich, ihre Stimme zu hören.
»Stell dir vor, Papa. Morgen kann ich nach Hause.« Sie klang fröhlich.
»Das ist ja toll.« Eschenbach war nicht wirklich begeistert. Er konnte sich einfach nicht überwinden, zu Wolfgang zu fahren, und hätte Kathrin deshalb lieber im Spital besucht.
»Komm doch einmal bei uns vorbei. Mama würde sich bestimmt freuen.«
»Vielleicht. Aber wenn ich Zeit hab, schau ich morgen noch in der Klinik vorbei.« Er brachte es nicht übers Herz, zu erzählen, dass er gerade in ihre Richtung fuhr und es für einen Besuch am selben Abend nicht reichte. Als das Schild »Ausfahrt Horgen« im Nebel an ihm vorbeizog, seufzte Eschenbach. Er hatte ein schlechtes Gewissen. Eine Weile hörte er ihr noch zu, wie sie vom Krankenhausalltag erzählte. Dann legten sie auf.
Zwanzig Minuten später verließ er die breite, von Matsch und Eis befreite Fahrbahn. Die Landstraße war nur spärlich beleuchtet. Wechten aus aufgeworfenem Schnee standen links und rechts wie weiße Mauern; sie nahmen einen großen Teil der Straße in Anspruch, sodass Eschenbach zirkeln musste, als ihm der Kastenwagen einer Reinigungsfirma entgegenkam. Die Wagenheizung lief auf Hochtouren und der Volvo tuckelte langsam durch die engen Kurven den Berg hinauf, Richtung Schindellegi. Die lange Auffahrt zum Hotel Panorama Resort & Spa war vom Schnee befreit und die im Boden eingelassenen Scheinwerfer zündeten
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