Eistod
erledigen.«
Nachdem sie aufgelegt hatten, telefonierte Eschenbach mit Olaf Thornsten, dem Vizerektor der ETH, einem Physiker mit Berliner Akzent. Er erklärte ihm in knappen Worten, was zu tun sei. Dass er jetzt reagieren müsse und dass er sich ebenso überrascht, ja überrumpelt zeigen dürfe wie alle andern. Ja, das dürfe er sein: überrascht und ratlos. Auch als Stellvertreter des Rektors, denn schließlich wüssten sie auch nicht mehr als alle anderen.
Während Eschenbach mit Thornsten telefonierte, bezahlte er sein Zimmer, ging hinaus auf den Parkplatz und stieg ins Auto. Offenbar bereitete es dem Professor Mühe, in einen Hörsaal zu gehen, ohne mehr zu wissen als die Leute auf den Bänken. »Da müssen Sie durch, Herr Professor. Einfach durch. Und sagen Sie, dass die ETH Abklärungen treffen und die Medien über weitere Entwicklungen informieren wird.« Eschenbach musste den Satz wiederholen, der Professor machte sich Notizen.
Als er bei Wollerau auf die Autobahn fuhr, hatte er Thornsten so weit, dass der sich die Sache zutraute. Es war kurz vor neun. Der Kommissar dachte an Juliet und daran, dass die Preußen auch nicht mehr hielten, was sie einmal versprochen hatten. Er wollte im Präsidium anrufen, aber Rosa kam ihm zuvor.
»Sind Sie dran, Chef?«
»Wer denn sonst?« Eschenbach ärgerte sich über die Frage. Von Weitem sah er schon die Autos, die sich gegen Ende der Autobahn kurz vor Zürich auf der Brücke stauten. Das übliche Spiel am Morgen. »Ich fahr direkt zur ETH, dort ist der Teufel los. Winter ist weg … Sie haben’s vielleicht gelesen.«
»Ich weiß, das ist es ja … die Sache mit der CIA.« Rosa machte eine kurze Pause. »Kobler und Sacher sind in Ihrem Büro. Sie warten. Vergessen Sie die ETH und kommen Sie, so schnell wie’s geht.«
Der Kommissar fluchte. Er wusste nicht, ob er bei Brunau raus und über den Bahnhof Enge fahren oder auf der Autobahn bleiben sollte. Der Verkehr staute sich hier wie dort; es war eine Entscheidung wie zwischen Pest und Cholera.
27
Es war dasselbe Gefühl wie früher, wenn er zu spät zur Schule gekommen war und das Klassenzimmer als Letzter betreten musste.
»Sind sie noch drin?«, fragte Eschenbach, als er an Mazzolenis Schreibtisch vorbei Richtung Büro ging.
»Seit einer Stunde.« Rosa schaute demonstrativ auf die Uhr. »Wo waren Sie nur, Chef?«
»In der Kur … in einem Wellness-Hotel … unter Palmen.« Als er sah, dass Rosa nicht zu Späßen aufgelegt war, fragte er: »Ist es ernst?«
Sie nickte.
Es musste ernst sein, dachte der Kommissar, denn er konnte sich nicht erinnern, wann ihn Regierungsrätin Sacher zum letzten Mal besucht hatte. Ob sie ihn überhaupt einmal besucht hatte, in seinem Refugium an der Kasernenstrasse. Als Regierungsrätin des Kantons ließ man bitten und pflegte einzuladen. Was man nicht tat, war, über eine Stunde zu warten.
Klara Sacher stand auf, als er ins Büro trat, und Eschenbach ging, noch im Wintermantel, direkt auf sie zu. »Es tut mir leid, wenn Sie hier warten mussten. An der ETH ist gerade der Teufel los.«
»Ich weiß.« Sie reichte ihm die Hand.
Ihre feingliedrigen Finger fühlten sich an wie Wachs. Eine glycerinhaltige Hautcreme, dachte Eschenbach. Trockenheit, Kälte und die Angst vorm Altern. Der Kommissar hatte die Vorsteherin des kantonalen Polizeidepartements kleiner in Erinnerung. So wie sie dastand, in hellem Deuxpièce und weißer Bluse, mochte sie gut eins achtzig groß sein. Ausgemergelt wie eine Salzsäule und ohne hohe Absätze; die trug sie nicht.
Nachdem der Kommissar auch Kobler die Hand gegeben hatte, begrüßte er Tobias Pestalozzi. Zu seiner Überraschung saß der Blonde ebenfalls am Tisch. Er war, wie die beiden Frauen, kurz aufgestanden.
Eschenbach hängte seinen Mantel in den Schrank und ließ sich dabei Zeit. Dann ging er zum Besprechungstisch. »Und was gibt mir die Ehre«, fragte er, während er sich setzte. »So hohen Besuch habe ich selten.«
»Nun, die Sache ist etwas delikat«, begann Sacher.
»Winter ist weg«, sagte Eschenbach und nickte.
»Nicht nur das …« Sacher rückte ihren Stuhl etwas zurück und schlug die Beine übereinander. »Wir haben Professor Winter schon lange in Verdacht … das heißt, nicht wir, natürlich.« Sie sah zu Tobias Pestalozzi. »Ich denke, es ist angebracht, wenn Sie die Sachlage kurz erörtern.«
Es war ein ihm fremder Gesichtsausdruck, den Eschenbach bei seinem scheinbar unbedarften Assistenten entdeckte. Die blauen Augen
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