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Eistod

Eistod

Titel: Eistod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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Wall. Einzig die Gehsteige hatte man weiß belassen. Sie waren rutschig und der Kommissar war froh um das dicke Profil seiner alten Militärschuhe.
    Der Weg führte an der Confiserie Frey vorbei. Eschenbach warf einen Blick auf die Auslagen: auf die Boule de Bâle und die Truffes de Champagne, die sich hinter der großen Fensterscheibe ins beste Licht rückten. Dann ging er weiter. Am Ende der Häuserblocks überquerte er die Straße und folgte dem schmalen Fußgängerpfad, der über eine Autobahnbrücke Richtung Elisabethen führte. Auf der Höhe des kleinen Viaduktes sah er die helle Fassade einer Bank. »Sie finden uns gleich hinter der Bank Sarasin«, hatte ihm Max Hollenweger am Telefon gesagt.
    Das Tageshaus für Obdachlose an der Wallstrasse war ein dreistöckiges Mietshaus; quadratisch und nüchtern. Kaum hatte Eschenbach es betreten und sich seinem Leiter vorgestellt, wurde er von der dort herrschenden Geschäftigkeit mitgerissen.
    »Sie können gleich mit anpacken«, hatte Hollenweger gesagt und ihm eine Küchenschürze in die Hand gedrückt. »Der Freiwillige, der für heute zugeteilt war, ist ausgefallen. Er hat die Grippe.«
    Der Kommissar hatte nicht einmal die Zeit zu protestieren. »Aber geben Sie mir zuerst Ihre Wertsachen.«
    Eschenbach zögerte einen Moment. »Ich hab nix«, sagte er.
    »Portemonnaie und Uhr … das ist doch eine alte IWC, nicht wahr?«
    »Eine alte, ja.« Der Kommissar fingerte am Lederarmband.
    »Hardy ist zwar nicht hier … den haben sie wieder eingelocht wegen irgendwas. Aber ich sage Ihnen, der könnte als Trickdieb im Zirkus auftreten.«
    »Sie kennen die Leute alle? Ich meine, die von der Straße …«
    »Oh ja, die meisten schon«, sagte Hollenweger. Er nahm Uhr und Geldbörse, ging damit in sein kleines Büro und verstaute sie in einem Aktenschrank.
    »Vielleicht kennen Sie jemanden auf dieser Liste …« Eschenbach holte die zusammengefalteten Blätter aus seiner Jackentasche.
    »Später«, kam es von Hollenweger ungeduldig. »Es ist kurz vor zwölf und das Essen ist noch nicht angerichtet.«
    Der Kommissar wurde auf direktem Weg in die Küche geführt. Hähnchen mit Nudeln stand auf dem Menuplan; und als Vorspeise grüner Salat.
    »Früher gab’s nur Nudeln«, sagte Christine Bloch. Sie war groß, blond und eine von drei Mitarbeiterinnen, die sich zusammen mit Hollenweger und dessen Stellvertreter René Zobel den Dienst teilten. »Aber seit man uns die meisten Lebensmittel kostenlos zur Verfügung stellt, gibt’s einen richtigen Zweigänger, mit Fleisch und so.«
    Eschenbach wurde angewiesen, Salat zu verteilen, auf kleine, weiße Porzellanteller.
    »Gleich große Portionen, wenn’s geht …« Christine deutete auf die Durchreiche. »Und weil Sie schon dastehen, können Sie’s den Leuten grad ausgeben … und einkassieren natürlich. Drei Franken pro Menu. Getränke kosten einen extra.«
    Der Kommissar reichte durch und kassierte. Er sortierte die Münzen in die Kassenschublade: die Zehner zu den Zehnern, die Fünfziger zu den Fünfzigern. Als eine ältere Frau mit Strickjacke anschreiben lassen wollte, nickte Christine. »Machen wir.« Und zum schlaksigen Blonden, der sechs Fränkler hingelegt hatte, sagte sie: »In Ordnung, Kudi.« Der kleine Zettel an der Schranktür, auf dem die Schuld vermerkt war, wurde abgenommen, zerrissen und in den Müll geworfen. »So geht das hier«, sagte sie mit einem Lächeln, das ebenso routiniert schien wie die Handbewegung, mit der sie weiter Hähnchen und Nudeln auf die Teller lud.
    Eschenbach sah in die Gesichter der Leute, die ihm die Münzen gaben und ihr Essen entgegennahmen. »En Guete«, sagte er jedes Mal. Ein seltsames Gefühl beschlich ihn. Zum Glück hatte er eine sinnvolle Tätigkeit zu verrichten, dachte er.
    Es waren nicht die Kleider der Leute, die sie verrieten; die waren allesamt in Ordnung. Keine Anzüge natürlich, aber Jeans oder dunkle Hosen, Sweatshirts und anständige Hemden. Nicht kaputt jedenfalls. Zum Teil schienen sie neu zu sein, poppig oder frech, mit Flair kombiniert, und manchmal sogar chic. Eschenbach musste unweigerlich an seine Strickjacke denken, die er entsorgt hatte, weil sie ihm nicht mehr gefiel, und an die Sachen, die Corina zweimal im Jahr in Texaid-Säcke stopfte, um für Neues im Schrank Platz zu schaffen. Er dachte über diese ungewollte Großzügigkeit nach: über die Ironie, dass sie das Elend fürs Auge erträglicher machte.
    Aus der Nähe, eingeklemmt zwischen Herd und

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