Eistod
seiner Traurigkeit schön. Es übte auf Eschenbach eine starke Anziehungskraft aus, es hatte etwas, das ihn bewegte und an ihm zerrte. Und plötzlich wusste der Kommissar, was Meret Meiendörfer mit den Flüssen gemeint hatte.
»Tobias hat mir von Ihnen erzählt.«
»Ach ja?«
»Sind Sie ihm noch immer böse?«
»Mmh … ich weiß nicht.« Eschenbach versuchte ein Lächeln.
»Gehen Sie nicht zu hart ins Gericht mit ihm … er hat es meinetwegen getan.«
»Was?«
»Das Mittel … von Winter. Er ist ein Genie. Allerdings kein besonders mutiges, muss ich zugeben. Obwohl die Tests positiv waren, die Tierversuche, Sie wissen schon … es ging trotzdem nicht vorwärts. Er ist ein Zauderer, unser Professor.«
»Es gibt Vorschriften, nehme ich an.«
»O ja, immer mehr sogar. Es vergehen Jahre, bis ein Wirkstoff den Weg von der Forschung in die Regale der Apotheken findet. Und dieser Zeitraum wird länger und länger … Wir brauchen mehr mutige Menschen, Herr Kommissar. Sind Sie es?«
»Nein.«
»Sie lügen.«
Eschenbach zuckte die Schultern.
»Tobias ist ein mutiger Mensch … Christoph auch. Ich liebe sie für diese Tugend.«
»Das kann man auch anders sehen.«
»Nein. Die Angst bröckelt einem die Seele auf. Es braucht Mut, um sie daran zu hindern.«
»Oder Hoffnung.«
»Mut ist die Mutter der Hoffnung.«
Der Kommissar schwieg und dachte über das Gesagte nach. Draußen im Park waren ein paar Arbeiter dabei, die Wege und Parkbänke freizuschaufeln.
»Um diese Jahreszeit ist es besonders schlimm«, sagte sie nach einer Weile. Sie sprach mit einer leisen, monotonen Stimme. »Dann nehme ich Tabletten und schlafe. Tagelang. Schwester Irmgard meint zwar, es täte mir nicht gut, das viele Schlafen. Aber sie gibt mir Tabletten gegen die Rückenschmerzen, die ich vom Liegen bekomme, und etwas gegen den niedrigen Blutdruck. Sie ist eine mutige Frau. Wenn ich nicht mehr einschlafen kann, denke ich, vielleicht sind es auch Wachmacher. Schwester Irmgard sagt Nein. Ich kann es nicht sagen. Ich sitze dann hier am Fenster und schaue dem Schnee zu, und dem Eis, wie es sich langsam in den See hineinfrisst.«
»Bekommen Sie keine Besuche?«
»Ich mag die Leute nicht. Das dumme Geschwätz ums Essen und ums Wetter, es ödet mich an. Die ganzen Familiengeschichten … sie interessieren mich einfach nicht.« Sie machte eine abwehrende Geste mit der Hand.
»Und Christoph?«
»Ja, natürlich. Er kommt, wenn er Zeit hat. Und Tobias auch. Aber eigentlich möchte ich niemanden sehen. Auch sie nicht.« Einen Moment schloss sie die Augen. »Ich bin eine große Last geworden, für alle … und für Tobias sowieso. Er hat das Gefühl, an allem schuld zu sein.«
Eschenbach verstand, was sie meinte, und er wusste nicht recht, was er antworten sollte.
»Ich bin am liebsten allein«, sagte sie.
»Das verstehe ich.«
»Außer an Weihnachten … das ist eine Ausnahme«, fuhr sie fort. »Dann muss ich zur Feier. Christoph will das so, weil der Gemeindepräsident mit einem Blumenstrauß kommt und sich für das Geld bedankt, das ich in den Seewinkel gesteckt habe.« Wieder machte sie eine wegwerfende Geste. »Nach dem Essen singen alle Vom Himmel hoch da komm ich her … so ein Blödsinn: vom Himmel hoch … Die Blumen gebe ich Irmgard, sie freut sich. Wenigstens das. Und jetzt gehen Sie bitte, ich bin müde.«
Eschenbach tat so, als ob er aufstehen wollte. »Und das Mittel, das Ihnen Tobias beschafft hat … haben Sie es hier?«
»Ja. Ich nehme es …« Sie seufzte leise. »Seit ein paar Tagen. Vielleicht Wochen. Ich weiß es nicht. Ich spüre nichts … aber vielleicht kommt das ja noch.«
»Könnte ich es sehen?«
Einen kurzen Moment sah sie Eschenbach an. Aus tiefen Lidern ein ausdrucksloser Blick, der dem seinen flüchtig begegnete. »Ich darf mit niemandem darüber reden.« Sie schüttelte den Kopf. »Auch nicht mit Schwester Irmgard.«
»Ich weiß. Machen Sie eine Ausnahme.«
Wortlos stand sie auf, ging ins Schlafzimmer und kam mit einem Dutzend Tabletten zurück. »Hier, nehmen Sie. Ich habe genug davon.«
Eschenbach streckte ihr die Hand entgegen.
»Vielleicht helfen sie Ihnen ja. Sie haben traurige Augen, Herr Kommissar.«
Er steckte die kleinen weißen Dinger in die Brusttasche seines Hemdes und lächelte. »Danke … ich danke Ihnen.«
Während Eschenbach durch den hell erleuchteten Flur zurück zum Aufzug ging, dachte er über den verlorenen Mut der alten Frau nach. Er selbst kannte auch Momente,
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