Eistod
dreimal piepte. Erst jetzt merkte er, dass die Kollegen immer noch dastanden und ihm bei der Arbeit zusahen.
»Immer noch da? Es gibt keinen Chemieunterricht heute.«
»Wir verschwinden schon.« Eschenbach gab nur unwillig nach.
Lenz und Jagmetti machten Augenaufschläge.
Hätte Salvisberg die drei noch eines Blickes gewürdigt, es hätte vermutlich sein Herz erweicht; wie Kinder, die man zu früh ins Bett schickte, schlichen sie zum Ausgang.
»Der war doch nicht immer so«, sagte Lenz, nachdem sie an einem Tisch in der Kantine Platz genommen hatten und auf Claudio warteten, der Getränke und etwas Kleines zum Essen holte.
»Forscher halt.« Eschenbach zuckte die Achseln. »Wenn die auf etwas stoßen, das sie noch nicht kennen, verlieren sie komplett den Anstand.« Er zog den Mantel aus und hängte ihn über die Stuhllehne.
Jagmetti kam mit einem Tablett zurück; mit Kaffee, Tee, Kuchen und einer Dose Red Bull. »Die ist für dich«, sagte er zu Eschenbach und stellte ihm das taurinhaltige Getränk hin. »Weil du noch bumsen musst.«
»Ha, ha«, machte Eschenbach. »Da spricht der blanke Neid.« Sie tranken und teilten mit ihren Gabeln das einzige Stück Linzertorte. »Es gab nur noch das eine«, entschuldigte sich Jagmetti.
»Zum Glück, es ist trocken wie ein Wüstensturm«, beschwerte sich Lenz. Nach einer Weile sagte er zu Eschenbach: »Die Abklärungen, um die du mich gebeten hast, ich meine diese Sekretärin, Juliet Ehrat. Du hast mich nie mehr danach gefragt …«
»Ich will’s auch gar nicht mehr wissen«, unterbrach ihn der Kommissar.
»Ist das der Bums?« Claudio lachte.
»Dann halt nicht«, sagte Lenz mit Nonchalance. Er fuhr sich mit der Hand über den Schnauz und verbarg ein Schmunzeln.
»Ihr könnt mich doch, alle beide!« Der Kommissar stand auf und nahm den Mantel von der Stuhllehne. Einen Moment stand er nachdenklich da, dann setzte er sich wieder. »Von mir aus, Ewald. Wenn’s etwas gibt, das ich wissen sollte, dann schieß los.«
»Es gibt aber nichts«, sagte der Alte und zwinkerte mit den Augen. »Das ist es ja; sie ist einfach nur ein nettes Mädchen.« Nachdem sie sich verabschiedet hatten, ging Eschenbach nochmals zu Salvisberg. Aber dort gab es nichts Neues. Noch nicht.
»Kann ich wenigstens dein Telefon benutzen?«, fragte der Kommissar.
»Ja.«
»Wo?«
»Mein Büro.«
Die Einsilbigkeit zeigte Eschenbach, dass der Pathologe abgetaucht war in die Welt der Moleküle und Verbindungen. Es war eine Welt, die aus weniger als hundert Elementen bestand und die sich mit einem einfachen Baukasten, dem Dimitri Mendelejew den unsinnigen Namen Periodensystem gegeben hatte, beliebig zusammensetzen und wieder auseinandernehmen ließ. Sonne, Mond und Sterne, Küsse und ein Geschnetzeltes à la Zurichoise – all das bestand in seinem Kern lediglich aus H, He, Li, Be, B, C, O, N, F, Ne et cetera. Aus ein paar läppischen Buchstaben.
So logisch und strukturiert diese Welt war, Eschenbach hatte sie nie richtig begriffen. Jetzt, an Salvisbergs Pult, zwischen den vollgestopften Bücherwänden und Regalen fiel es ihm besonders auf. Überall lagen Berichte herum, Studien und Gutachten. Das ganze Zeugs, das so gescheit und klar war, dass es einem mulmig wurde. Eschenbach hatte plötzlich das Gefühl, schreien zu müssen. Er überlegte sich, ob ihm all das fehlende Wissen bei den Fragen, die er ans Leben stellte, wirklich geholfen hätte. Er seufzte laut. Wie alle Betrachtungen, die sich mit dem Konjunktiv quälten, brachten sie einen nicht weiter. Wenigstens das wusste der Kommissar ganz genau.
Er nahm den Telefonhörer, wählte die Nummer von Rosa und auf einen Schlag war es mit der Einsilbigkeit vorbei. Die Moleküle verließen ihre geordneten Strukturen und die Elemente purzelten wie ein Haufen besoffener Buchstaben aus ihrem Periodensystem. Alles lebte wieder.
»Und jetzt bitte alles nochmals der Reihe nach, Frau Mazzoleni.«
Es war ein weiterer Toter gefunden worden. Genauer gesagt eine Tote. Bei der Universitätsklinik Balgrist. Eschenbach dachte an das blonde Mädchen, das ihm beim Haus Ober entwischt war. Er notierte sich den Namen des Arztes und sagte Rosa, sie solle den Leichnam direkt zu Salvisberg ins Rechtsmedizinische Institut überführen lassen. »Wenn’s geht, heute noch.«
»Das wird aber spät.«
»Trotzdem.« Der Kommissar schrieb Salvisberg eine Notiz auf ein Blatt Papier und legte es zuoberst auf sein Schreibtisch-Chaos.
Rosa raspelte eine Reihe von Namen
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