Eistod
damals groß in den Schlagzeilen gewesen ist.« Lenz kramte eine Plastikfolie hervor. »Hier sind einige Zeitungsausschnitte vom Berner Bund , datiert vom Mai und Juni 1963 . Man munkelte damals, dass dem Unternehmer Meiendörfer, der finanziell in Schwierigkeiten steckte, eine größere Summe zugeschoben worden war. Jedenfalls war er plötzlich mit allem einverstanden.«
»Dann ist Tobias Meiendörfer so etwas wie der Ziehsohn von Klara Sacher.«
»Genau so ist es.«
Während der Kommissar eine Brissago aus der Schachtel zog, sie nachdenklich zwischen den Fingern drehte, fuhr Lenz fort.
»Sacher und ihr Mann, die selbst keine Kinder hatten, adoptierten den Jungen; er wuchs unter dem Namen Tobias Pestalozzi in Zürich auf, ging dort zur Schule et cetera. Dafür gibt es eine Bestätigung der Adoptionsstelle, zudem findet man seinen Namen unter den Absolventen der eidgenössischen Maturitätsprüfung.«
»Trotzdem hat er seinen Namen später wieder geändert oder liege ich da falsch?«
»Nein, da liegst du völlig richtig. Einem entsprechenden Antrag wurde 1985 durch das Zivilstandesamt Thun stattgegeben. In der Begründung wird eine starke, emotionale Bindung zu seiner leiblichen Mutter aufgeführt.«
»Manchmal frage ich mich, warum wir ganze Abteilungen mit Recherchen beschäftigen, wenn du das alles so ruck, zuck mal selbst herausfindest.« Eschenbach kaute auf seiner Brissago. Er wusste, dass Lenz es nicht liebte, wenn man seine Wohnung vollqualmte. Und wie es schien, half auch ein Kompliment nicht weiter, denn der Alte machte keine Anstalten, ihn zum Rauchen aufzufordern.
»So schnell ging’s nun auch wieder nicht … jedenfalls hatten wir eine ganze Menge Glück.«
»Ach komm!«
»Nein, wirklich. Meret Meiendörfer ist wissenschaftlich gesehen der interessante Fall einer besonders gravierenden PPD.«
»Einer was?«
»Einer postpartalen Depression.«
»Ach so.«
»Auf diese Weise bin ich darauf gestoßen. Außer in Forschungskreisen, die sich mit diesem Thema beschäftigen, kommt der Name Meiendörfer nämlich äußerst selten vor.«
»Lebt die Dame noch?«, wollte Eschenbach wissen.
»Ja. Nach mehreren Klinikaufenthalten wohnt sie nun im Altersheim Seewinkel in Gwatt. Das ist in der Nähe von Thun. Sie genießt dort eine Art Sonderstatus, was die Betreuung betrifft. Ansonsten ist sie eine von vielen Leuten, meist älteren, die dort leben. Der Arzt, der die Krankheit damals an der Psychiatrischen Klinik am Inselspital Bern diagnostiziert hatte, betreut sie noch immer.«
»Hast du mit ihm gesprochen?«
»Nein. Ich habe gedacht, das überlasse ich dir.«
»Ach ja? Wieso das denn?« Eschenbach stutzte. Delegieren war noch nie eine Sache von Lenz gewesen.
»Weil du ihn kennst. Es ist Christoph Burri.«
35
Mitternacht war vorüber, als der Kommissar von der alten Mühle zurück in seine Wohnung kam. Jagmetti, der am Wochenende in Chur gewesen war, schlief bereits. Seine Schuhe standen im Flur, auf einem Flecken eingetrockneten Schneewassers.
Eschenbach schlief schlecht. Er träumte vom Spital, von Kathrin und von Judith. Auf merkwürdige Weise vermischten sich die Bilder. Im Medikamentenschrank fand er ein Fläschchen Baldriantropfen. Zuerst nahm er sie mit einem Glas Wasser, eine Stunde später zusammen mit Whisky ein. Es half nichts.
Natürlich hatten Burri und er sich damals gefragt, wohin Judith gegangen war. Mitten in der Nacht, im Dezember. So wie man sich eben fragt, wenn man sich selbst nicht sicher ist, wer man ist und wo man sich gerade befindet. Nur unternommen hatten sie nichts. Und irgendwann später, am nächsten Morgen, es war gerade hell geworden, hatte Winter dagestanden. Der kleine Theo, schreiend, im Schlafzimmer von Eschenbachs Studentenbude an der Zentralstrasse. Er erzählte, dass man Judith aufgegriffen habe, völlig verwirrt, beim Stauffacher, und drohte, dass er ihnen die Polizei auf den Hals hetzen werde. Als Judith später – die ärztlichen Abklärungen hatten nichts ergeben – ins Burghölzli eingeliefert wurde, sorgte Winter dafür, dass Eschenbach und Burri sie nicht besuchen konnten. Einmal gelang es ihm trotzdem. Über eine Stunde saß er bei ihr, aber sie hatte keinerlei Ähnlichkeit mehr mit der Judith, die er gekannt hatte. Zwei Tage später war sie tot. Man hatte nie herausgefunden, wer ihr die Schlaftabletten besorgt hatte. Eschenbach hatte Winter im Verdacht. Dass die polizeilichen Ermittlungen eingestellt wurden, war schließlich Judiths Eltern zu
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