Eistod
gratis. Das hat man mir auch noch gesagt. Und damit wandert man ins nächste Krematorium … ziemlich rasch sogar, leider.«
»Keine Spuren von Tetrodotoxin?«, fragte Jagmetti.
»Bisher nicht … außer beim Toten, den wir aus der Limmat gefischt und zu Salvisberg gebracht haben. Das war sozusagen ein Glücksfall. Kein Mensch sucht Tetrodotoxin bei einem Penner.«
»Es fehlt uns also eine Leiche«, meinte Lenz nachdenklich.
»Du hast es erfasst.«
Sie erreichten Gwatt eine Stunde zu spät, aber das machte nichts. Im Seewinkel war man froh, wenn überhaupt jemand kam.
Die Altersresidenz lag direkt am Thunersee. Ein zweistöckiger Flachdachbau aus den Siebzigerjahren, mit einem Mittelteil und zwei rechtwinklig abstehenden Flügeln. Den Fassaden hatte man einen Anstrich in Altrosa verpasst und die Fenster mit einer weißen Umrandung optisch vergrößert. Es schien, als wäre die Anlage erst vor Kurzem renoviert worden.
»Ein typischer Asbest-Bau, den man verschönert hat«, bemerkte Lenz.
Nachdem man sie geheißen hatte, einen Moment zu warten, ließen sie sich auf einer Ansammlung neuer Polstermöbel in der Eingangshalle nieder: karierte Bezüge in Altrosa, Gelb und Beige. Eschenbach überlegte, ob die Farben Teil eines durchdachten Konzeptes waren.
Jagmetti las in einer Broschüre. Sie hatte den Herbst des Lebens zum Thema. Er gähnte.
Eine alte Frau ging langsam an ihnen vorbei. Sie schob ein Stahlgestell mit Gummirädern wie einen Einkaufswagen vor sich her. Die elegante Kleidung hing an ihr wie etwas Fremdes.
Es war bemerkenswert still.
Nach einer Weile kam eine jüngere Frau auf sie zu. Um die fünfzig. Stämmig, mit rosa Wangen und einem Ansatz zu einem Doppelkinn. Der blonde Pagenschnitt verlieh ihr etwas Ritterliches. »Ich bin Schwester Irmgard«, sagte sie und stützte dabei die Hände in die Hüften.
Eschenbach stand auf: »Wir haben miteinander telefoniert.« »Schön, dass Sie es doch noch geschafft haben.«
Jagmetti und Lenz standen ebenfalls auf.
»Sie können nicht zu dritt … das ist unmöglich.«
Lenz und der Kommissar sahen sich einen Moment lang an, dann sagte der Alte: »Okay, wir warten hier.«
»Ich bring Sie jetzt zu Frau Meiendörfer.«
Eschenbach nickte. Schweigend folgte er der Schwester zum Aufzug.
Auf dem Weg zu Meret Meiendörfer erfuhr Eschenbach, dass die alte Dame, wie die Schwester sie nannte, den Seewinkel vor zwei Jahren gekauft hatte. Alles sei von Grund auf renoviert worden und neues Personal sei auch eingestellt worden. Qualifiziertes Personal, wie Schwester Irmgard betonte.
»Das Ganze ist dann in eine Stiftung überführt worden, unter der Leitung von Dr. Burri. Ich nehme an, er hat Sie über den Gesundheitszustand der Patientin orientiert.«
»Natürlich«, log Eschenbach.
»Seit Frau Meiendörfer bei uns ist, ist alles besser geworden.« Schwester Irmgard klopfte an die Tür.
Die Frau, die ihn mit dem wehrlosen Händedruck eines Kindes begrüßte, war groß und hager. Obwohl sie den Angaben nach Sachers Zwillingsschwester sein musste, schien sie zehn Jahre älter. Mindestens. Eschenbach sah sie an. Er blickte in ein heimatloses Gesicht, aus dem sich Zuversicht und Freude vor langer Zeit verabschiedet hatten.
»Setzen wir uns ans Fenster«, sagte sie mit leiser Stimme, so als handelte es sich dabei um eine mühselige Angelegenheit.
Eschenbach ging hinter ihr her durch eine geräumige Dreizimmerwohnung, deren Wohnzimmer einen herrlichen Blick auf Park und See bot.
»Ich habe den See immer vermisst«, sagte Meret Meiendörfer, nachdem sie sich langsam auf einem Sessel am Fenster niedergelassen hatte. »In Bern … die Aare. Das ist schön, wenn man jung ist. Aber Flüsse reißen einen fort, sie führen ins Ungewisse.«
Sie musste einmal eine wunderschöne Frau gewesen sein, dachte Eschenbach. Er sah ihre Augen, die Symmetrie ihres Antlitzes und es fiel ihm leicht, sie sich als Zwanzig- oder Dreißigjährige vorzustellen. Mit vollen Lippen und strahlendem Blick. Formen haben etwas Kraftvolles; etwas Bleibendes, auch wenn sich die Inhalte über die Zeit änderten.
Der Kommissar mochte die kubistischen Frauenbilder von Picasso mit ihrer aufgelösten Tiefe. Wenn man die dritte Dimension an die Oberfläche zauberte, wurde das Essenzielle plötzlich sichtbar. Der Kern, die Seele des Menschen, das Innerste – wie immer man es nennen wollte: Es wurde sichtbar durch die Formen der Geometrie.
Das Bild der Frau, das Eschenbach vor sich hatte, war trotz
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