Eiswind - Gladow, S: Eiswind
als könne sie noch immer den wohligen Duft der Babyhaut riechen, den sie in sich aufgesogen hatte. Sie hatte um jede der wertvollen Sekunden gekämpft, die sie miteinander hatten verbringen dürfen. Sie war so überwältigt und glücklich gewesen über diese gänzlich neue Dimension von Liebe, die sie erfahren hatte. Es war der schönste und zugleich schmerzvollste Moment ihres Lebens gewesen, weil sie gewusst hatte, dass ihre Tochter sterben würde.
Tom hatte neben ihr auf dem Bett des Kreißsaales gelegen und sie beide mit seinen Armen eng umschlungen, als wollte er sie für ewig festhalten und so Marie daran hindern zu gehen. Drei Stunden hatte das kleine
Herz auf dem ihren geschlagen. Sie hatten den kleinen, nackten Körper auf ihrem gewärmt und sie mit der dicken Daunendecke umhüllt. Es waren friedliche Momente, und die Stille war von den zarten, wohligen Lauten der Kleinen erfüllt gewesen. Für drei Stunden waren sie eine richtige Familie. Als Marie aufhörte zu atmen, war auch ein Teil von Anna gestorben.
Sie war erleichtert, als sich der Kloß in ihrem Hals löste und sie zu weinen begann. Erst leise, dann immer heftiger. Sie ließ den Schmerz, der ihren ganzen Körper durchströmte, gewähren. Tränen rannen ihr über das Gesicht und tropften auf die Granitarbeitsplatte und in ihren Becher. Es störte sie nicht.
Hubert schleckte mit seiner Zunge ihre nackten Füße und blickte sie mit seinen riesigen schwarzen Augen traurig an. Sie streichelte ihm liebevoll über das Fell, und nach einer Weile gelang es ihr, sich wieder zu fassen.
»Komm, Hubert, wir gehen laufen«, sagte sie. »Wir gehen laufen und dann arbeiten, das Einzige, was hilft.«
6. KAPITEL
B endt fluchte, als er Alexander Jensen verloren hatte. Er war zwar mit Sicherheit der bessere Läufer, und wahrscheinlich hätte ihm Jensen auf Dauer konditionell nichts entgegenzusetzen gehabt, dieser war aber ohne Zweifel der bessere Kletterer.
Es war Bendt zunächst gelungen, ihn eine ganze Weile zu verfolgen. Er hatte ihn durch die historischen Gassen der Altstadt gejagt und das Kopfsteinpflaster und die verwinkelten, engen Straßen verflucht, die ihm die Verfolgung erschwert hatten. Er hätte ihn das eine oder andere Mal beinahe fast greifen und zu Fall bringen können, wenn es Jensen nicht immer wieder geschafft hätte, sich über irgendein Hindernis zu retten, bei dem Ben abbremsen musste. Schließlich war Jensen über einen hohen Zaun geklettert und auf ein Grundstück geflüchtet, auf dem sich seine Spur verlor.
Bendt hatte zwar den Zaun im zweiten Anlauf überwunden, war aber beim Abstieg so ungünstig abgerutscht, dass er sich eine Zerrung zugezogen hatte und nicht mehr weiterlaufen konnte. Auch den Besatzungen der Einsatzwagen war es bislang nicht gelungen, Jensen zu stellen.
»Tut verdammt weh«, stöhnte Bendt, während er
gemeinsam mit Hauptkommissar Braun über den dunklen Flur des Gebäudes der Staatsanwaltschaft Lübeck humpelte. Der muffige Geruch des gebohnerten Linoleumbodens und das teils typisch braune Behördenmobiliar riefen jedes Mal in ihm unangenehme Erinnerungen an seine Schulzeit wach. Am Wochenende, wenn die überwiegende Anzahl der Bürotüren verschlossen war und sich kaum ein Staatsanwalt zum Arbeiten hierher verirrte, wirkte das Gebäude mit seinen kalkigen, längst renovierungsbedürftigen Wänden noch trostloser.
»Armer Kerl«, bedauerte Braun ihn ehrlich mitfühlend, als er sah, dass Bendt das Gesicht bei jedem Schritt schmerzvoll verzog.
Er war froh, Staatsanwältin Anna Lorenz am Sonntag im Büro erreicht zu haben. Eigentlich war am Wochenende der Eildienst der Staatsanwaltschaft und der Gerichte für den Erlass von Haftbefehlen und sonstige unaufschiebbare Entscheidungen zuständig. Da Hauptkommissar Braun jedoch wusste, dass Anna Lorenz die für diesen Fall zuständige Staatsanwältin war, hatte er versucht, sie telefonisch im Büro zu erreichen und ohne jegliche Verwunderung festgestellt, dass sie tatsächlich im Büro war. Sie war in letzter Zeit immer dort, es sei denn, man erfuhr im Sekretariat, dass sie sich in einer Sitzung befand.
»In dieser Gruft würde ich nicht einen Tag freiwillig am Wochenende arbeiten«, sagte Bendt naserümpfend.
»Das tun ja auch die wenigsten«, antwortete Braun. »Zumal die keine einzige Überstunde bezahlt kriegen, die sie schieben.«
»Das wusste ich gar nicht«, antwortete Bendt erstaunt.
»Die Lorenz«, fuhr der Hauptkommissar fort, »hat schon früher
Weitere Kostenlose Bücher