Eiswind - Gladow, S: Eiswind
deutlich wahrzunehmen, dass auch sie den heutigen Abend in stiller Eintracht mit ihm für ihre Zusammenkunft auserkoren zu haben schien. Die Zeit, die er zwangsläufig noch bei IHNEN ausharren musste, war nun erst recht unerträglich lang. Die Minuten schlichen dahin, bis sich ihm endlich die Gelegenheit bot, IHRER quälenden Gesellschaft zu entfliehen.
Er war froh, als die Feier endlich zu Ende gegangen war und die Besucher nach und nach das Internatsgelände verlassen hatten. SIE hatten sich von ihm – wie üblich – mit dem Kommentar verabschiedet, dass er sich an seinem Bruder, der SIE so stolz mache, ein Beispiel nehmen solle. Die Worte waren durch seinen Kopf hindurchgerauscht, und er hatte die restliche Zeit, die er auf ihre Zusammenkunft warten musste, in der Stille seines Zimmers verbracht und seinem klopfenden Herzen gelauscht.
Jetzt trat er endlich nach draußen und sog den verführerischen Duft der lauen Sommernacht ein, während er im sanften Licht der nahenden Dämmerung den Weg in Richtung der Apartmenthäuser hinaufstieg, die am Ende des Internatsgeländes lagen. Ina bewohnte eines der Zimmer im ersten Stock des Hauses Nummer vier, dessen kleine Balkons einen herrlichen Ausblick in die malerische Landschaft des norddeutschen Flachlandes boten.
Er suchte hinter einer der mächtigen Eichen Schutz und
blickte zu dem unbeleuchteten Zimmer hinauf. Ihm kam es vor, als sei er eine Mischung aus Cyrano de Bergerac und Shakespeares Romeo, als er dort unten stand und wartete. Bald war es so weit. Endlich würde er die ersehnte Begegnung herbeiführen können.
Als kurz darauf das Licht im Zimmer anging, raubte es ihm fast den Atem. Sosehr er diesem Treffen entgegengefiebert hatte, sosehr fürchtete er sich mit einem Mal vor ihm. Der kalte Schweiß brach ihm bei dem Gedanken aus, er könne sich getäuscht haben und sie würde seine Gegenwart gar nicht auf magische Weise spüren und ihre Balkontür würde geschlossen bleiben. In das Haus hineinzugehen und an ihrer Tür zu klopfen erforderte eine Kühnheit, die aufzubringen er sich nicht imstande sah. So blieb ihm nichts anderes übrig, als dort unten auszuharren und zu warten.
Es wurde bereits dunkel, und es lag eine friedliche Stille in der Luft, die nur durch das fordernde Zirpen der Grillen gestört wurde.
Der Gedanke, unverrichteter Dinge den Heimweg antreten zu müssen, schien ihm unerträglich. Er erschrak, als das Licht im Zimmer ausging, und fürchtete bereits, dass sie ins Bett gegangen sein könnte, als er den sanften Lichtschein einer Kerze in der Mitte des Raums ausmachte. Sein Herz machte einen Sprung, als sich endlich die Balkontür öffnete und sie heraustrat.
Es war eine märchenhafte Atmosphäre, die ihn plötzlich umgab, unwirklich und dennoch realer und lebendiger als alles, was er je zuvor erlebt hatte.
Sie lehnte sich über das Geländer, und ihre dunklen, im Kerzenschein leuchtenden Locken umspielten in betörender
Schönheit ihre nackten gebräunten Schultern. Sie sah so perfekt aus in ihrem zart geblümten Sommerkleid, dass es ihm schlicht den Atem verschlug.
Endlich traute er sich, aus dem Schutz des Baumes hervorzutreten. Gerade wollte er seinen Mund öffnen und etwas rufen, als sich Ina zu einer Person umwandte, die jetzt ebenfalls aus der Balkontür trat und ihr ein Glas reichte.
Er war wie paralysiert, unfähig, sich zu rühren. Kein anderer als Ferdi trat nun zu ihr und zog Ina an sich, um gleich darauf seine Lippen auf die ihren zu pressen. Ihm war, als würde man ihm den Boden unter den Füßen wegreißen, sein gerade begonnenes Leben mit einem Schlag wieder auslöschen.
Er rang nach Luft, während er hinaufblickte und zusehen musste, wie sich Ferdis Arme schlangengleich um ihren Körper wanden und sie vergifteten. Seine Schläfen pochten wild, und heiße Tränen der Verzweiflung und der Wut traten ihm in die Augen.
Ina entdeckte zuerst, dass etwas nicht stimmte.
»Ist da jemand?«, rief sie unsicher und schaute über das Geländer hinunter in den Garten.
Seine Hoffnung, unerkannt in der Dunkelheit untertauchen zu können, schwand, als er Ferdis Blick auf sich spürte.
»Du Drecksau!«, zischte Ferdi wütend zwischen den Zähnen hervor. »Mach, dass du verschwindest!«
Er wollte kehrtmachen, konnte aber der Versuchung nicht widerstehen, ihr einmal direkt in ihre schönen unergründlichen Augen zu sehen. Vielleicht konnte er eine geheime Botschaft in ihnen lesen?
In ihm keimte der verzweifelte Wunsch auf, sie habe
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