Eiszart
huschte ein riesiger Schatten durch den Raum, und keine Sekunde später stürzte ein Herr in vornehmer Gewandung herein. Veruschka stieß vor Schreck einen Schrei aus und wich zur Seite. In der Hand hielt er einen Degen. Er positionierte sich direkt vor ihr. »Keine Angst, Werteste, ich bin gekommen, um Euch zu retten.«
»Mich retten? Wovor? Wer um alles in der Welt seid Ihr?« Wo kam er so plötzlich her? Woher wusste er, dass sie hier war? Hatte ihn Olga, die Magd, oder sonst wer gerufen?
»Für Erklärungen ist jetzt keine Zeit. Bitte verlasst sofort diesen Raum!«
»Geh nicht«, flehte der Graf und streckte die Hand nach ihr aus, aber ihr ungewollter Retter richtete sogleich den Degen auf Zima.
»Warum tut Ihr das, lasst den Grafen in Ruhe, ich bitte Euch.«
»Er wollte Euch umbringen, Werteste.«
»Was?« Sie ließ vor Schreck fast ihre Kerze fallen.
»Bleibt hinter mir, achtet auf das Kerzenlicht. Es darf nicht ausgehen, versteht Ihr?«
»Ja … aber …« Er ging rückwärts, drängte sie vorsichtig zur Treppe.
»Ihr spielt Euch als Retter auf, Graf Vesna, aber der Lady droht keine Gefahr.«
»Ich kenne Euch, Zima, mir macht Ihr nichts vor. Die Dunkelheit in Eurem Herzen hat Euch längst verraten. Nur der Herr der Kälte ist zu solchem Gräuel fähig, einem unschuldigen Mädchen das Lebenslicht zu rauben.«
Herr der Kälte? Veruschka wusste nicht, wie ihr geschah. Aus den Ritzen zwischen den Steinen, die das Mauerwerk bildeten, schossen winzige Keime, die sich in Windeseile in immer größer werdende Ranken verwandelten. Sie versiegelten das Turmzimmer, sperrten Zima darin ein.
»Folgt mir, Werteste. Vergesst die Kerze nicht.«
Er ergriff ihre Hand, und sie fühlte sich herrlich warm an. »Aber was ist mit Zima?« Ihr Herz raste.
»Er wird Euch kein Leid mehr zufügen.«
»Aber das hat er doch gar nicht.«
Graf Vesna eilte die Stufen hinab, zog sie mit sich, hinunter in das Schloss, raus aus der doppelten Flügeltür in den Innenhof, wo ein gesäumtes Pferd schon auf sie wartete. Er half ihr auf, setzte sich hinter sie in den Sattel und gab dem die Tier die Sporen. Mit lautem Schnauben galoppierte das edle Ross los.
Sie ritten durch die kalte Nacht, trotzten dem Winterwind, der ihnen unbarmherzig entgegenpeitschte, und schließlich hielten sie an einem kleinen Turm mitten im Wald an. Er ragte wie ein Berg aus der winterlichen Landschaft, um ihn herum blühten vom Mondlicht beschienene Sträucher und Blumen: Eine kleine Oase in der weißen Wüste.
»Steigt ab, Werteste. Bei mir seid Ihr sicher. Zumindest vorerst.«
Sie kletterte vom Pferd und staunte, denn in der Oase war es angenehm warm. »Wo sind wir hier, was ist das für ein Ort?«
»Mein Zuhause, Werteste.«
Sie betraten den Turm. Er war hell erleuchtet, trotz der dunklen Nacht. »Stellt die Kerze dort drüben ab und dann wärmt Euch auf.«
Sie tat, wie ihr geheißen, und setzte sich dann in den gemütlichen Ohrensessel am Kamin, versank tief in dem warmen Stoff.
»Graf Vesna?«
»Ja, Werteste?«
Er trat vor sie, zum ersten Mal betrachtete sie ihn genauer. Er sah Graf Zima ähnlich, war von derselben anmutigen Gestalt. Seine Gewänder schimmerten in den hellsten und buntesten Farben. Er war es, den sie vorhin auf dem Ball gesehen hatte. Offenbar war er tatsächlich ohne Begleitung erschienen. »Vesna. Das bedeutet doch Frühling, nicht wahr?«
»Ihr habt eine feine Beobachtungsgabe, Werteste.« Er verneigte sich vor ihr.
»Und Zima …, das ist der Winter.«
»Mein Bruder Moroz ist ein alter, einsamer Mann. Ich muss mich bei Euch für sein Benehmen entschuldigen. Er weiß nicht, wie man eine Dame behandelt.«
»Er war nicht grob zu mir. Ganz im Gegenteil.«
»Er wollte Euch verführen, Euer Lebenslicht zu löschen. Nun wisst Ihr von der Bedeutung dieser Kerze. Sie ist Euer wertvollster Besitz. Hütet ihn wie Euren Augapfel, oder besser wie Euer Herz.«
»Das Licht symbolisiert mein Leben? Aber … wie ist das möglich? Wie ist er an die Kerze gelangt? Ich bin doch ohne Kerze hergekommen.«
»Moroz ist dazu in der Lage. Eine Berührung genügt, und er entzieht Euch, was Euch am Leben hält.«
Sie schluckte. Das klang furchtbar. Ein Kerzenlicht war schnell erloschen. Ein Windstoß genügte. Wie war es möglich, dass die Kerze überhaupt noch brannte und während ihres Ritts nicht ausgegangen war?
Sie brauchte die Frage nicht zu formulieren, Vesna lieferte ihr die Antwort sogleich. »Ich habe meine schützende Hand über
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