Eiszart
Eure Kerze gehalten, doch nun bin ich fast am Ende meiner Kräfte. Und Zima wird Euch suchen. Wir müssen Euch nach Hause bringen, bevor er uns hier aufspürt.«
»Ich bin mit der Kutsche gefahren. Es ist ein weiter Weg bis nach Hause.«
»Ihr ahnt nicht, wie weit er tatsächlich ist.«
Vesna setzte sich auf einen Schemel und musterte sie genau. »Wie meint Ihr das?«, fragte sie, und eine böse Ahnung beschlich sie. »Ich bin nicht mehr in meiner Welt, nicht wahr?«
Vesna zuckte hilflos mit den Schultern. »Es gibt einen Weg zurück. Ich helfe Euch, ihn zu finden. Allerdings …« Er warf einen Blick aus dem Fenster, wo inzwischen wieder ein Schneesturm tobte. »… wird es nicht ganz einfach. Mein Bruder ist mächtiger als ich. Zumindest hat er im Augenblick die Vorherrschaft, und somit folgen die Gewalten seinen Befehlen, er macht die Regeln. Wir müssen durch den Sturm gelangen. Es wird kalt werden, und mühevoll.«
»Wieso kann ich nicht noch einmal die Kutsche nehmen?«
»Diese Kutsche würde Euch nur wieder zu ihm zurückbringen.«
Veruschka seufzte. »Dann lasst uns keine Zeit vergeuden und sofort aufbrechen.«
»Zuvor braucht Ihr andere Kleidung. Dieses Gewand ist nicht mehr vollständig, viel zu dünn und obendrein unpraktisch. Es behindert Euch in Eurer Bewegung.«
Vesna schnippte mit dem Finger, und sogleich trat eine Magd durch die Tür.
»Mein dienstbeflissener Geist wird Euch helfen.«
Die Magd knickste. »Folgt mir bitte, Werteste, ich helfe Euch beim Umziehen.«
Veruschka folgte der jungen Frau, die verblüffende Ähnlichkeit mit dem Dienstmädchen aus Zimas Schloss hatte. War sie tatsächlich nur ein Geist? Wie alle anderen auch? Sie dachte an den Kutscher Vladimir, der lange tot war, und ihr gruselte fürchterlich.
Die Magd führte sie ins Gästezimmer, wo ein dicker Mantel für sie bereitlag. Rasch schlüpfte sie aus den Resten ihrer Ballrobe, hinein in die einfachen neuen Kleider, die herrlich wärmten. Fest zog sie den Mantel um sich. »Nehmt auch das mit Euch«, sagte die Magd und reichte ihr einen Glassturz.
»Was soll ich damit?«
»Für Euer Licht.« Zima hatte sie aufgefordert, es auszulöschen, damit sie für immer bei ihm blieb. Aber dann war er von dieser Bitte abgekommen. Etwas hatte ihn plötzlich gehindert. War er wirklich so böse, wie Graf Vesna behauptete?
»Beeilt Euch jetzt, Werteste.«
Draußen wartete Vesna mit dem gesattelten Pferd. Sie nahm die Kerze, steckte sie unter die Glashaube und stieg auf. Vesna nahm hinter ihr Platz, zog die Zügel an und stieß seine Hacken in die Flanken des Tieres.
»Er wird uns folgen, aber wir werden schneller sein. Ich bringe Euch zur Grenze, wenn Ihr diese überquert, seid Ihr wieder in Eurer eigenen Welt.«
In Windeseile durchritten sie den schneeverhangenen Forst, und je weiter sie sich von Zimas Schloss entfernten, desto stärker wurde der Schneesturm. Es war, als versuchte Moroz, sie zur Umkehr zu zwingen.
Veruschka hatte Angst. Sie musste aber auch immer wieder an die traurigen Augen des Grafen denken. Sie konnte nicht glauben, dass dieser Mann böse war, gar ihren Tod wünschte.
»Kehre zurück«, meldete sich plötzlich eine Stimme in ihrem Kopf. Sie gehörte Graf Zima. Erschrocken blickte sie sich um, doch der Graf war nirgends zu sehen.
»Hört Ihr das auch?«, fragte sie ängstlich.
»Was meint Ihr, Werteste?«
»Ich höre seine Stimme.«
»Dann ist er schon sehr nah.« Er trieb das Pferd stärker an, führte es tiefer hinein, bis in das Auge des Schneesturms. Eisige Kälte blies ihnen entgegen, aber Graf Vesna setzte seinen Weg unbeirrt fort. Nichts, so schien es, konnte ihn aufhalten.
»Kehre zurück«, flüsterte Moroz, aber Veruschka ignorierte seine Rufe. Die Schneeflocken tanzten wie wild vor ihren Augen, blendeten sie. Immer dichter wurde der weiße Regen, immer stärker der Sturm. Mehr und mehr kamen sie von ihrem Weg ab. Sie kniff die Augen zusammen, versuchte, sich vor dem Gestöber zu schützen, als sie plötzlich etwas aus dem Sattel riss, sie hochhob und durch die Luft wirbelte. Eine Böe hatte sie erfasst.
»Graf Vesna, Vorsicht!«, schrie Veruschka. Irgendwo kam sie auf und schlug mit dem Kopf an einen Stein. Ihr schwindelte. Der Schmerz drohte sie zu übermannen. Für einen kurzen Moment sah sie nur noch verschwommen. Aber dann besann sie sich, rappelte sich auf und torkelte durch den kniehohen Schnee. Sie musste Schutz vor diesem grausamen Sturm finden.
»Vesna, helft mir!«, rief sie aus
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