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Eiszart

Eiszart

Titel: Eiszart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Dirks
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frisches Tuch vor Nase und Mund, als der Wilde an ihnen vorbeilief. Die schwarzen Haare hingen ihm ins Gesicht, sein Körper war von Striemen gezeichnet, Schmutz lag in einer dicken Schicht auf seiner krustigen Haut. Am Leib trug er nicht mehr als einen Lendenschurz. Sein Anblick war ekelerregend. Es kostete die Zuschauer einiges an Mühe, ihr Entsetzen zu verbergen. Gleichzeitig konnte niemand den Blick von der erbärmlichen Gestalt lassen. Alle ergötzten sich an seinem Leid.
    Langsam zog der Jüngling seine Kreise, drohend den Stock hebend, wenn der Wilde nicht spurte.
    »Mein Gott, ich frage mich, wo sie diesen menschlichen Abfall hergeschafft haben?«, keuchte Giffard und drückte den feinen Stoff seines Tuches fester in sein schwammiges Gesicht.
    »Lassen Sie sich nicht täuschen, der Herr, erklärte ein junger Mann zu Giffards Linken. »Wolfsmenschen gibt es nicht. Das sind Mythen. Ich bin überzeugt, diese abgewrackte Kreatur ist in Wahrheit ein Schauspieler, der sich sein tägliches Brot mit derlei Auftritten verdient. Zugegeben eine nicht gerade angenehme Tätigkeit, wenn man bedenkt, worin sich der Ärmste gesuhlt haben muss, um derart zu stinken. Heutzutage tun die Menschen vieles für Geld.«
    Wer genau hinsah – und das tat Beaumont –, bemerkte schnell, dass der Wolfsmann, der eigentlich eher einem verkrüppelten Affen glich, einen eigentümlichen Gang besaß. Er erschien Beaumont keineswegs gestellt und dem Wilden ganz natürlich inne. Mühelos ging er auf allen vieren, nicht jedoch auf den Knien, wie es ein kleines Kind tat, das noch nicht laufen gelernt hatte. Durch die unterschiedliche Arm- und Beinlänge war er gezwungen, sein Gewicht nach vorn zu verlagern und dabei das Hinterteil auf fast schon belustigende Weise in die Höhe zu recken.
    »Lauf die gleiche Strecke zurück, unsere Zuschauer wollen dich sehen. Sie bekommen nicht genug von deiner Hässlichkeit«, rief der Gaukler und führte den Wilden nochmals über die Bühne. Dieses Mal konnte Beaumont dem Wilden ins Gesicht blicken. Der Ausdruck war stumpf, beinahe einfältig. Die Augen glanzlos und trüb. Nein, so gut konnte nicht einmal der beste Schauspieler eine Rolle verkörpern.
    Nachdenklich rieb sich Beaumont die Stirn. Natürlich gab es keine Werwölfe, jedoch war es historisch belegt, dass es zu allen Zeiten Wildkinder gegeben hatte, die isoliert in den Wäldern aufwuchsen, manchmal sogar von Tieren aufgezogen wurden, und die keine menschlichen Sitten kannten. Es existierten wenige Fälle, die ausführlich dokumentiert worden waren, doch die wenigen, die es gab, hatte er studiert, als er noch an der Universität war. Man hatte versucht, die Wolfskinder in das gesellschaftliche Leben zurückzuführen, ihnen Werte beizubringen, die Sprache zu lehren. Meist waren die Versuche erfolglos geblieben. Man hielt sie für schwachsinnig und brachte sie schließlich in einer Anstalt unter, wo sie ein trauriges Dasein fristeten und meist recht schnell verstarben.
    Der Schrei einer Frau riss Beaumont aus seinen Gedanken. Sein Blick schweifte zur Bühne, auf der die drei Männer mit vereinten Kräften an der Kette des Wolfsmenschen zogen. Er war ins Publikum gesprungen. Zwei der Männer packten ihn an den Armen, der dritte riss an der Eisenkette, bis das Lederband den Wolfsmann strangulierte. Die Menge wich zurück. »Was für eine bösartige Kreatur!«, ertönten Rufe.
    »Komm jetzt!«, brüllte einer der Männer, nachdem sie ihn auf die Bühne zurückbefördert hatten. Als sich der Wolfsmensch ihm zuwandte und gefährlich knurrte, hob er den Rohrstock.
    »Schafft diesen Kerl endlich fort!«
    »Eine Unverschämtheit, so etwas habe ich ja noch nie erlebt!«
    Der Stock schnellte auf den ungeschützten Rücken des Wilden nieder und hinterließ einen kräftigen, rot schimmernden Abdruck.
    »Aufhören!«, erhob Beaumont Protest, als er die Misshandlung sah. Doch niemand reagierte auf seinen Einwand. Im Gegenteil, die Leute belohnten den Gaukler mit Applaus und Zurufen.
    Der Beifall schwoll derart an, dass der Wolfsmann verängstigt zum Ende der Bühne zurückwich, ohne jedoch den heftigen Hieben entrinnen zu können, die ohne Unterlass auf ihn niederprasselten.
    »Lass es gut sein«, beruhigte der katzenhafte Jüngling seinen Gefährten und hielt ihn davon ab, den Wilden erneut zu schlagen. Dann griffen die Brüder nach den Armen des Wolfsmannes und schleiften die jaulende Gestalt aus dem Zelt. Kurz darauf kam einer der Männer zurück und wischte

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