Eiszeit in Bozen
konzentrierte sich auf den
Weg unmittelbar vor ihr. Gianna hatte ihre Retterin mit beiden Armen umfasst,
presste ihren ganzen Körper an sie. Ihre Kräfte schienen nachzulassen, die
Reaktionen wurden langsamer. Wenn sie an diesem Abgrund einen Fehler machte,
dann war es aus. Aus und vorbei.
Je tiefer sie kamen, desto weniger Schnee lag. Kurz bevor auf
tausendachthundert Metern Höhe die asphaltierte Straße begann, wurde der
Schnee pappig. Das bremste ihre Fahrt zusätzlich. Immerhin hatten sie es bis zu
dem kleinen Tunnel geschafft, hinter dem der Abgrund endete. Mauracher stoppte
das Board, sprang ab, löste mit einem Griff Giannas Sicherungen. »Los, durch
den Tunnel, schnell! Dahinter steigen wir sofort wieder auf das Board, wir
müssen die Straße erreichen!« Sie liefen los, Sabine Mauracher drehte sich zum
ersten Mal um. Aus der Dunkelheit, aus Nebel und Schnee, tauchte wie ein
Schatten ihr Verfolger auf. Ihr Vorsprung war nur noch hauchdünn.
***
Vincenzo überlegte einen Augenblick, ob er seine Skier
anschnallen sollte, verwarf es jedoch. Der Schnee war zu nass für einen
Aufstieg auf Skiern. Abwärts wäre es kein Problem gewesen, aber das nützte ihm
im Moment nichts. Jede Minute kam ein weiterer Zentimeter Schnee dazu, selbst
im Hochwinter hatte er solche Schneemassen noch nicht erlebt. Er marschierte
durch die neunte Kehre. Er ging schnell, stieß sich zusätzlich mit seinen
Skistöcken ab. Endlich tauchte der Abzweig vor ihm auf, im dichten Schneefall
kaum zu erkennen. Er sah den Jeep, der mit der Schnauze talwärts mitten in der
Kehre stand. Der musste Oberrautner gehören. Maurachers Punto parkte viel
weiter unten im Tal.
Instinktiv griff er sich an die Seite, fühlte das Halfter. Jetzt
brauchte er die Skier. Er zog sich in den Schutz der Bäume zurück, setzte die
Bretter auf den Boden, klinkte den rechten Fuß ein. Er wollte gerade den linken
aufsetzen, als plötzlich wie aus dem Nichts jemand mit irrem Tempo auf die
Straße raste, direkt auf ihn zu. Es dauerte keine drei Sekunden, und zwei
Menschen auf einem Snowboard rauschten an ihm vorbei. Im Nebel des
Schneesturms, auf den Weg konzentriert, hatten Mauracher und Gianna den
Commissario im Schutz der Bäume nicht wahrgenommen. Auch Vincenzo hatte nur
realisiert, dass ein unförmiges Wesen auf einer Art Ski an ihm vorbeigerast
war. Während er noch überlegte, was er tun sollte, ob er weiter ansteigen oder
abfahren sollte, rannte ein einzelner Mensch über die schneebedeckte Straße
direkt auf den Jeep zu. Er sprang ins Auto, fuhr los.
In diesem Augenblick hatte Vincenzo das gesamte Geschehen erfasst.
Sabine hatte Gianna tatsächlich gefunden, aus dem Gletscher geholt und fuhr mit
ihr auf einem Snowboard den Berg hinab. Dabei waren sie Oberrautner begegnet,
der sie nun verfolgte. Eine nie dagewesene Euphorie und Tatkraft durchströmte
Vincenzo. Gianna war gerettet! Jetzt war es an ihm, ihren Entführer, diesen
Abschaum, zu erledigen, bevor er seine Opfer erreichte.
Vincenzo zog seine Waffe, sprang aus der Bindung und auf die Straße.
Er zielte auf den Jeep, der ohne abzubremsen auf ihn zuhielt. Er konnte nicht
in das Innere des Wagens sehen, die Scheiben waren getönt, der Schneefall tat
ein Übriges. Da war der Jeep schon auf seiner Höhe, zu schnell, um noch
abzudrücken. Mit einem Hechtsprung zur Seite rettete sich Vincenzo. Er war
sofort wieder auf den Beinen, stieg in seine Skier, folgte dem Jeep talwärts,
dessen Abstand rasch wuchs.
***
Er war wütend! Fast hätte er sie gehabt, sie waren keine zehn Meter
mehr vor ihm. Im Tunnel waren sie viel zu lahm, er holte schnell auf. Er konnte
ihren Angstschweiß förmlich riechen. Aber dann musste sich sein dämlicher Ski
in dieser blöden Wurzel verfangen. Unfassbar. Wie konnte ein einzelner Mensch
dermaßen vom Pech verfolgt sein? Wäre er nicht so reaktionsschnell und
sportlich, hätte er sich garantiert den Knöchel gebrochen. Wenigstens das war
ihm erspart geblieben. Er war weitergelaufen, ohne Skier, mitten durch den
widerlichen Schneematsch.
Als er an seinem Jeep ankam, hatten die beiden schon wieder so viel
Vorsprung, dass er sie nicht mehr sehen konnte. Stattdessen war Bellini
aufgetaucht, der leider rechtzeitig zur Seite springen konnte. Dafür sah er ihn
jetzt im Rückspiegel. Schön, auf diese Weise wurde er Augenzeuge, wenn gleich
seine Gianna über den Haufen gefahren wurde. Aber wo Bellini war, war die
Kavallerie nicht weit. Irgendwo da unten warteten sie auf ihn.
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