Eiszeit in Bozen
Wirbelwind voller
Temperament, schwerer zu nehmen als ihre Geschwister. Sie war überschäumend,
überschwänglich, manchmal sprunghaft. Während ihre Geschwister groß und kräftig
waren und eher reifer wirkten als ihr tatsächliches Alter, war Elisa auch mit
fast zehn Jahren noch ein kleines Mädchen. Im Gegensatz zu ihren beiden Eltern
war sie zierlich, sie hatte lange blonde, ungewöhnlich dichte Haare und
dunkelbraune Augen. In der Schule war sie mittelmäßig, konnte sich schwer
konzentrieren, war kaum zu Hausarbeiten zu motivieren. Doch aufgrund ihrer
offenen und freundlichen Art war sie überall beliebt, bei den Lehrern ebenso
wie bei ihren Mitschülern.
Guiseppe und Barbara hatten geheiratet, nachdem sie sich nur zwei
Monate kannten. Beide wussten, dass sie gefunden hatten, wonach sie suchten.
Marzoli war ein zuverlässiger, engagierter Polizist aus Überzeugung. Es war
eine Selbstverständlichkeit für ihn, dem Commissario in dieser schweren Zeit
zur Seite zu stehen. Nicht nur beruflich, indem er bereitwillig Abende und
Wochenenden mit der Familie opferte, sondern auch menschlich.
Es war nicht zu übersehen, dass Bellini am Ende seiner Kräfte war.
Was dieser Teufel in Menschengestalt mit ihm machte, war zu viel für einen
Mann, diese Situation musste jeden überfordern. Trotzdem sorgte sich Bellini um
Elisa. Erst vor einer halben Stunde hatte er angerufen, um sich nach dem Stand
der Dinge zu erkundigen.
Für Marzoli stand die Familie über allem, und für seine Frau Barbara
galt das Gleiche. Wenn sie gelegentlich in der Zeitung auf Berichte über
Kinderschicksale stießen, waren sie beide manchmal stundenlang bedrückt, sie
wurden von der Sorge umgetrieben, dass auch ihnen so etwas passieren könnte.
Und jetzt war es geschehen, Elisa war spurlos verschwunden. Es war
bereits nach drei, und sie hatten noch nichts von ihr gehört. Marzoli war
inzwischen zigmal ihren Schulweg abgefahren, er hatte mit dem Schuldirektor
konferiert, sie hatten viele der Eltern angerufen. Natürlich war nicht
auszuschließen, dass sie mit einer Freundin unterwegs war, aber das wäre
untypisch für sie. Elisa war trotz ihrer Impulsivität zuverlässig. Wenn sie
nach der Schule nicht gleich nach Hause kommen wollte, rief sie stets von ihrem
Handy aus bei ihrer Mutter an. Sie hatten ihr das Mobiltelefon eigens für
solche Zwecke zum achten Geburtstag geschenkt. Und das war der nächste Punkt, der
ihnen Angst machte: Ihr Mobiltelefon war ausgeschaltet.
Marzoli saß ratlos in seinem Arbeitszimmer, starrte auf das Telefon.
Er wusste nicht, was er noch tun sollte. Selbstverständlich hatte er bei seinen
Kollegen eine Vermisstenanzeige aufgegeben, aber er wusste, dass bis zum Abend
nicht viel unternommen werden würde. Schließlich stand er seufzend auf und ging
hinunter ins Wohnzimmer. Er musste sich um den Rest der Familie kümmern.
***
Sarnthein, 17.00 Uhr
Vincenzo fühlte sich unendlich schwach, der Schlafmangel
setzte ihm immer mehr zu. Er spürte, dass er sich in einem bedrohlichen
Abwärtsstrudel befand. Der Blick in den Spiegel entsetzte ihn: Sein Gesicht war
eingefallen, er hatte dicke Tränensäcke unter den Augen. Heute sah er nicht aus
wie Ende dreißig, sondern wie Anfang fünfzig. Seit Giannas Entführung hatte er
vier Kilo abgenommen, kein Wunder, er hatte seit Tagen überhaupt keinen Appetit
mehr. Und Alkohol hatte sich als schlechter Ratgeber entpuppt.
Schwerfällig schälte er sich aus seiner Jeans und schlüpfte in seine
Laufsachen.
Das war sein Credo: jeden Tag ein bisschen Sport, um Körper und
Geist halbwegs in Schwung zu halten. Aber mit jedem Tag fiel es ihm schwerer,
sich zu überwinden. Heute schaffte er zum ersten Mal den kurzen, steilen
Anstieg nicht, nach ein paar Metern hatte er den Eindruck, als würden seine
Beine in Sekundenschnelle bleischwer. Gleichzeitig wich jeder Rest von Kraft
aus seinem Körper. Solch einen körperlichen Einbruch hatte er noch nie zuvor
erlebt, es war schlimmer als bei einer Grippe. Er änderte seinen Plan. Ab
sofort würde er den Anstieg schnell gehen, das war besser als nichts.
Zurück in seiner Wohnung rief er als Erstes Marzoli an. Was für eine
Ironie des Schicksals, ausgerechnet in dieser Situation war seine Tochter verschwunden.
In seinen düstersten Phantasien hatte er sich ausgemalt, dass Oberrautner sich
Elisa geschnappt hatte. Aber das konnte er sich nicht vorstellen. Was hätte es
für einen Sinn, ein unschuldiges Kind in die Sache zu verwickeln?
Er wollte
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