Eiszeit in Bozen
Sinn.
Panische Angst erfasste Vincenzo. In vierundzwanzig Stunden würde
seine Welt eine andere sein, und er hatte keine Vorstellung, wie sie dann
aussehen würde. Spätestens morgen früh musste er mit der letzten Anweisung des Spielführers rechnen. Oberrautner hatte bereits Dinge
gefordert, die nahezu unmöglich waren. Morgen würde er seinen Spielpartner mit einem Zug konfrontieren, der tatsächlich
unmöglich war.
Ereignislos verstrich Sekunde um Sekunde. Vincenzo wusste, dass
etwas Ungeheuerliches passieren würde, aber nicht, was es sein könnte. Seine
Phantasie stieß an ihre Grenzen, er fühlte sich vollkommen machtlos. Was konnte
er noch tun? Hans’ Alleingang war seine einzige echte Hoffnung gewesen.
Eine ganz leise Chance hatte Vincenzo noch in dem Versuch gesehen,
Oberrautner zu entdecken, ohne dass er es merkte. Vielleicht hätte er sie
rechtzeitig zu Giannas Versteck geführt. Ohne jemanden darüber zu informieren,
hatte er Alessio gebeten, ein paar weitere Kollegen in der Nähe des »Blauen
Schiffs« zu postieren, um unauffällig nach Oberrautner Ausschau zu halten. Auch
wenn er Gianna damit in höchste Gefahr brachte.
Doch vergeblich. Der Kerl wusste, wie man sich versteckt.
Vincenzo verließ sein Büro und begab sich zum Vice-Questore, um ihn
über die letzten Ereignisse zu informieren. Als er seinen Bericht beendet
hatte, lehnte sich Baroncini resigniert in seinem Stuhl zurück. »Ich kann Ihnen
gar nicht sagen, wie leid mir das alles tut, Commissario. Der einzige schwache
Trost, den ich aussprechen kann, ist mein Versprechen, Sie jederzeit zu decken,
ganz egal, was kommt. Ich werde mich vor Sie stellen und die Verantwortung für
Ihre Einsätze übernehmen.«
»Danke, Vice-Questore. Das weiß ich zu schätzen. Aber wer kann schon
sagen, ob ich das morgen um diese Zeit noch brauche.«
»Kopf hoch, Bellini, Gianna lebt, davon bin ich überzeugt. Ich
versetze morgen die Questura und die Carabinieri in Alarmbereitschaft,
sicherheitshalber, weil wir nicht wissen, was Oberrautner verlangen wird.
Fahren Sie nach Hause, Sie können hier nichts mehr ausrichten. Versuchen Sie
abzuschalten und sich auszuruhen, damit helfen Sie Ihrer Freundin im Moment am
meisten.«
***
Sarnthein, 17.30 Uhr
Mit einem mulmigen Gefühl fuhr Vincenzo durch das Hochtal
vor Sarnthein. Über den Berggipfeln sammelten sich zunehmend Haufenwolken,
Vorboten des Wettersturzes. Er sah, wie sich die Bäume im starken Wind
bewegten, heftigere Böen konnte er sogar in seinem Alfa spüren. Das
Außenthermometer zeigte fast zwanzig Grad, kaum kühler als im siebenhundert
Meter tieferen Bozen. Hans hatte ihm oft genug erklärt, was das bedeutete.
Ein bevorstehender Wintereinbruch, ein angekündigter Orkan mit
Schneefällen, der letzte, unkalkulierbare Spielzug Oberrautners und das
Scheitern von Hans’ freiwilliger Mission – das Gefühl von Machtlosigkeit fraß
ihn förmlich von innen her auf. Unablässig zermarterte er sich das Hirn, wo
Gianna wohl stecken könnte. Kein Baroncini konnte ihm helfen, kein Marzoli,
keine Mauracher.
Er würde sich zwingen, ein paar Bergrunden zu laufen, um nicht noch
tiefer in seine Depression zu sinken, danach blieb ihm nichts weiter, als zu
Hause zu sitzen und abzuwarten, was passieren würde. Irgendwann würde das Handy
klingeln. Vielleicht ein weiterer abstruser Brief. Dann war es so weit. Und
dann? Wie weit gingen Oberrautners kranke Rachegelüste?
Um Viertel nach sechs war Vincenzo auf seinem Balkon. Selbst der
Wind war so warm, dass er im T-Shirt auf seinem bequemen Romeo-Sessel sitzen
konnte. Er überwand sich, etwas Schüttelbrot und Speck hinunterzuwürgen, dazu
trank er Wasser statt Wein. Die Zeit verstrich im Zeitlupentempo. Er griff zum
Telefon, um Valentin anzurufen. »Bist du zurück, Hans?«
»Schon lange. Ich fühle mich mies. Ich war mir so sicher. Was für
ein Reinfall! Hast du wenigstens was erreichen können?«
»Nein, gar nichts, ich sitze rum und drehe allmählich durch. Morgen
soll der ultimative Spielzug folgen, gleichzeitig kommt der angekündigte Sturm.
Am liebsten würde ich vom Balkon springen.«
Hans seufzte. »Ich kann dich gut verstehen, Vincenzo. Aber du musst
stark bleiben, ganz egal, was kommt. Dich trifft überhaupt keine Schuld. Ihr
seid die Zufallsopfer eines Irren. Du hast alles versucht, Gianna zu finden,
hast mich in die Berge gehen lassen, hast alle Forderungen von Oberrautner
erfüllt. Mehr war nicht möglich.«
Vincenzo schaute auf sein Wasserglas.
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