Eiszeit in Bozen
Er hatte nach dem Laufen nicht
einmal geduscht. Ihm war überhaupt nicht nach Wasser zumute. Mit dem Mobilteil
in der linken Hand ging er zum Kühlschrank, um sich ein Bier zu holen. Einen
Augenblick liebäugelte er mit einem Sixtus. Nein, lieber kein Bockbier. Er nahm
sich stattdessen ein Forst Kronen. Eine von den großen Flaschen, 0,66 Liter.
»Leider nützen mir diese Erkenntnisse nicht viel. Es geht um Giannas
Leben, um alles oder nichts. Hast du noch irgendeine Idee, wo sie sein könnte,
Hans, oder glaubst du, dass die Hinweise auf Eis doch ein Täuschungsmanöver
sind?«
»Das befürchte ich inzwischen. Stell dir mal bildlich vor, Gianna
wäre betäubt gewesen und er hätte sie Hunderte von Höhenmetern hinaufgetragen,
durch schwierigstes Gelände. Das wäre eigentlich Irrsinn, so jemand müsste
unglaubliche Kräfte und eine Wahnsinnskondition haben. Auf die Marmolata käme
man vielleicht rauf, doch die habe ich wirklich ausgeschlossen. Aber vielleicht
ist Gianna viel näher, als wir denken. Und vielleicht geschieht doch noch ein
Wunder, etwas, was wir uns jetzt nicht vorstellen können. Versuch, ein bisschen
zu schlafen, Vincenzo, du solltest morgen halbwegs ausgeruht sein.«
Jeder wollte ihm helfen, niemand konnte es. Letztlich war er allein.
Seine Eltern riefen jeden Tag an, um sich nach dem Stand der Dinge zu
erkundigen und ihre Unterstützung anzubieten. Alfredo hatte seinen Aufenthalt
in Bozen um eine Woche verlängert. Inzwischen war auch Nadia aus Mailand
angereist, die es allein zu Hause nicht mehr länger ausgehalten hatte. Wie gerne
hätte Vincenzo Giannas Eltern Trost zugesprochen, sich um sie gekümmert,
Optimismus verbreitet. Aber das konnte er nicht, er war genauso betroffen wie
sie. Ihr Kontakt hatte sich auf wenige Telefonate beschränkt, in denen Vincenzo
sie über den Stand der Ermittlungen informierte.
Er blickte zum Schöneck hinüber. Vor drei Tagen war dort oben alles
weiß gewesen, jetzt waren nur noch ein paar Schneereste zu sehen. Wenn er eine
Vorstellung hätte, eine Ahnung, wo sich Giannas Versteck befand, er würde
sofort aufbrechen. Abgesehen von dem böigen Wind waren die Bedingungen vorerst
noch gut, doch in wenigen Stunden würde er nicht einmal mehr bis an die
Baumgrenze kommen. Er leerte sein Forst. Ein Tropfen auf den heißen Stein. Er
stand auf, holte ein neues. Maximal drei würde er trinken, als Einschlafhilfe.
Um neun Uhr lag er im Bett.
Er schlief unruhig, schwitzte ununterbrochen, wälzte sich im Bett
umher. Wirre Träume ohne jeden Sinn oder Bezug liefen wie Kurzfilme durch sein
Unterbewusstsein. Plötzlich wurde er wach. Der Wecker zeigte kurz nach
Mitternacht. Durch die Fensterläden schimmerte fahles Mondlicht. Der Wind pfiff
unheimlich ums Haus, er hörte ihn im Wald rauschen. Der Sturm hatte begonnen,
Schnee und Kälte würden folgen.
Endlich registrierte er, dass es erneut das Handy war, das ihn
geweckt hatte. Unbarmherzig klingelte es weiter.
»Hallo?«
»Hallo, Vincenzo, hast du schon geschlafen? Sorry, ich wollte dich
nicht wecken. Ich bin fürchterlich aufgeregt. Du auch?«
»Aufgeregt trifft es nicht ganz.«
»Verstehe ich. Mach dir keine Sorgen, mein Freund, es ist bald
vorbei. Ist das nicht herrlich da draußen? Wie der Wind durch die Bäume tobt,
das klingt fast wie Donnergrollen. Wahnsinn. Das dringt regelrecht in mein
Inneres ein, es kommt mir vor, als wäre der Sturm in meinen Eingeweiden. Ich
kann überhaupt nicht einschlafen, so aufwühlend ist das. Ich liebe Sturm. Er
ist ein Sinnbild unseres Lebens. Ich persönlich könnte mir vorstellen, dass
dieses Windchen bis morgen sogar ein Orkan wird. Wir sind den Urgewalten ausgeliefert,
wir alle drei.«
Ein kleiner, aber heftiger Stich, der Hinweis auf Gianna, der seine
Wirkung nicht verfehlte. »Darf ich dich was fragen?«
»Vincenzo, warum so förmlich? Wir sind Seelenverwandte! Frag was
immer du willst.«
Da saß jemand am anderen Ende der Leitung, der die Polizei, den
Staat, ihn, den Polizisten, so sehr hasste, dass er vor nichts zurückschreckte.
Dennoch gelang es ihm, eine Stimme aufzusetzen, als wären sie seit der Kindheit
dicke Freunde. Dieser durchgeknallte Verfasser von Fantasy-Romanen wusste
genau, wo man ansetzen musste, um einem Menschen die größtmöglichen seelischen
Qualen zuzufügen. Vincenzo überwand sich, seine Bitte zu äußern. »Könntest du
nicht vielleicht Gianna schützen? Du hast sie doch in einem Gletscher
versteckt, oder? Bis ich deinen letzten Zug ausgeführt
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