Eiszeit
dem Wind zu haben. Als er dort hockte, spürte er, daß ihre gesamte Arbeit und all die Risiken, die sie eingingen, umsonst waren. Ihre Situation würde sich weiterhin verschlechtern, bevor sie sich verbesserte. Falls sie sich je verbesserte.
16:00
Die Ilja Pogodin schlingerte unruhig auf der Oberfläche des Nordatlantik. Die stürmische See schlug gegen den abgerundeten Bug und schäumte in der Dunkelheit, eine endlose Abfolge von Wellen, die Geräusche verursachten, die wie die Schläge eines Sommergewitters klangen, das Fensterscheiben zum Rappeln bringen konnte. Weil das Schiff so tief im Wasser lag, erzitterte es nur schwach unter der Einwirkung von Wellen, doch es konnte diese Belastung nicht ewig aushalten. Graues Wasser brodelte um das Hauptdeck, und Gischt, die so dick wie Pudding war, schwappte um das Fundament der großen Stahlplattform. Das Schiff war nicht für ausgedehnte Oberflächenfahrten in stürmischem Wetter konstruiert oder gebaut. Trotz seiner Neigung zum Schwanken konnte es sich so lange halten, bis Timoschenko die Nachricht ans Marineministerium in Moskau abgeschickt hatte.
Kapitän Gorow war mit zwei anderen Männern auf der Brücke. Sie alle trugen gefütterte Pijacken, schwarze Regenmäntel mit Kapuzen über den Jacken und Handschuhe. Die beiden jungen Männer, die Ausguck hielten, standen Rücken an Rücken. Der eine sah nach Steuerbord, der andere nach Backbord. Alle drei Männer hielten Feldstecher in den Händen und suchten den Horizont ab.
Ein verdammt naher Horizont, dachte Gorow, während er ihn betrachtete. Und ein häßlicher.
So hoch im Norden war das polare Zwielicht noch nicht vollständig im Himmel verblaßt. Ein unheimliches grünes Leuchten sickerte durch die schweren Sturmwolken und sättigte den Ausblick über den Atlantik, so daß Gorow durch einen dünnen, grünen Flüssigkeitsfilm zu schauen schien. Er erhellte schwach das tosende Meer und warf einen weichen gelben Glanz auf die schaumigen Wellenkronen. Eine Mischung aus feinem Schnee und Graupel zischte vom Nordwesten heran; die Finne, das Brückengeländer, Gorows schwarzer Regenmantel, die Laserantenne und die Funkmasten waren mit weißem Eis verkrustet. Zerrissene Nebelformationen verhüllten das abstoßende Panorama zusätzlich, und im Norden wurden die aufgewühlten Wellen von einem so dichten, graubraunen Dunst verborgen, daß es den Anschein hatte, jemand habe über die Welt dahinter einen Vorhang hinabgelassen. Die Sichtweite schwankte zwischen achthundert und zwölfhundert Metern und wäre noch beträchtlich schlechter gewesen, hätten sie keine Nachtsicht-Ferngläser benutzt. Hinter Gorow bewegte sich die Satellitenschüssel auf der Stahlfinne langsam von Osten nach Westen. Die ständige Positionsveränderung war auf einen Blick nicht festzustellen, doch die Anlage hatte einen russischen Telekommunikationssatelliten erfaßt, der seine Bahn in einer engen subpolaren Umlaufbahn hoch über den Massen der schieferfarbigen Wolken zog. Gorows Nachricht war vor vier Minuten von den Lasern abgestrahlt worden. Die Satellitenschüssel wartete auf die Antwort aus Moskau.
Der Kapitän hatte sich bereits die schlimmste mögliche Reaktion vorgestellt: Er würde den Befehl erhalten, das Kommando an den Ersten Offizier Schukow zu übergeben, der die Anweisung bekommen würde, ihn rund um die Uhr unter Arrest zu stellen und die Mission wie geplant fortzusetzen. Der Prozeß vor dem Kriegsgericht würde in seiner Abwesenheit stattfinden, und man würde ihn nach seiner Rückkehr nach Moskau über das Urteil in Kenntnis setzen.
Aber er erwartete von Moskau eine vernünftigere Reaktion als diese. Natürlich war und blieb das Ministerium stets unberechenbar. Selbst unter dem postkommunistischen Regime und dem neu entwickelten Respekt vor der Gerechtigkeit wurde Offizieren gelegentlich der Prozeß vor dem Kriegsgericht gemacht, ohne daß sie anwesend waren und sich verteidigen konnten. Aber er glaubte daran, was er Schukow im Kontrollraum gesagt hatte: Im Ministerium gab es nicht nur Vollidioten. Sie würden wahrscheinlich erkennen, daß sie diese Situation ausnutzen konnten, um propagandistische und strategische Vorteile zu erlangen, und die richtigen Entscheidungen treffen.
Er suchte den vom Nebel verschleierten Horizont ab.
Der Zeitfluß schien sich verlangsamt zu haben, ja fast zu einem Stillstand gekommen zu sein. Obwohl er wußte, daß es sich nur um eine Illusion handelte, sah er, wie das Meer in Zeitlupe toste,
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