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Eiszeit

Eiszeit

Titel: Eiszeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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daß sie in seiner Kehle brannte und in den Lungen schmerzte, obwohl er sie durch die Schneemaske einatmete. Er kehrte zum wärmeren Schneemobil zurück und fuhr dreißig Meter weiter, bevor er zu seiner nächsten Erkundungsmission aufbrach.
    Er hatte die Spalte wiedergefunden, es diesmal aber vermieden, beinahe über ihren Rand zu fahren. Der Abhang war zehn oder elf Meter breit, wurde nach unten schmaler und war mit mehr Dunkelheit gefüllt, als seine Taschenlampe zerstreuen konnte.
    Soweit er durch die vereiste Brille sehen konnte — an der in dem Augenblick, da er sie abwischte, neues Eis klebte —, bot die Wand, an der sie hinabsteigen mußten, eine ziemlich glatte, verhältnismäßig leicht zu bewältigende Fläche. Aber er konnte sich nicht ganz sicher sein, was er sah: Der Winkel, in dem er in den Abgrund schauen konnte, die seltsame Art und Weise, wie das tiefe Eis das Licht brach und reflektierte, die Schatten, die bei der geringsten Bewegung seiner Taschenlampe wie Teufel Kapriolen machten, der vom Wind aufgewehte Schnee, der über den Rand stob und dann in Spiralen in die Tiefe sank — das alles verschwor sich, um zu verhindern, daß er einen klaren Blick auf das bekam, was vor und unter ihm lag. Doch keine dreißig Meter tiefer schien eine ebene Fläche oder ein breiter Vorsprung zu liegen, von dem er glaubte, er könne ihn erreichen, ohne sich dabei umzubringen. Harry drehte seinen Schlitten um und setzte ihn behutsam zum Rand des Abgrunds zurück, ein Wagnis, das ihm normalerweise selbstmörderisch vorgekommen wäre. Doch wenn man bedachte, daß ihnen kaum noch sechzig Minuten blieben, schien ein gewisses Maß an Leichtsinn nicht nur gerechtfertigt, sondern unbedingt nötig zu sein. Außer Mannequins und englischen Premierministern erreichte niemand etwas, indem er einfach stillhielt. Das war ein Lieblingsausspruch von Rita, die selbst Engländerin war, und wenn Harry daran dachte, mußte er normalerweise lächeln. Jetzt lächelte er nicht. Er ging ein kalkuliertes Risiko ein, das mit größerer Wahrscheinlichkeit scheitern als Erfolg haben würde. Vielleicht brach das Eis unter ihm zusammen und stürzte in den Abgrund, wie es heute schon einmal passiert war.
    Dennoch war er dazu bereit, dem Glück zu vertrauen und sein Leben in die Hände der Götter zu legen. Falls es Gerechtigkeit im Universum gab, würde er von einem Wechsel des Schicksals profitieren — zumindest war einer schon lange überfällig.
    Als die anderen ihre Schneemobile angehalten hatten, ausgestiegen und zu ihm zum Rand der Spalte gekommen waren, hatte Harry zwei auf eintausend Pfund reißfeste Nylonseile an der Anhängerkupplung seines Schlittens festgezurrt. Das erste Tau war ein vierundzwanzig Meter langes Sicherheitsseil, das ihn kurz vor dem Boden des Abgrunds halten würde, falls er abstürzen sollte. Er band es um seine Hüfte. Das zweite, das er zum Abstieg selbst benutzen würde, war dreißig Meter lang, und er warf das freie Ende in die Schlucht.
    Pete Johnson traf am Rand ein und gab Harry seine Taschenlampe.
    Seine eigene hatte Harry bereits in den Gürtel um seine Taille gesteckt. Sie hing an der rechten Hüfte, der Griff nach oben, die Linse nach unten. Nun befestigte er Petes Lampe an der linken Hüfte. Zwei Strahlen aus gelbem Licht leuchteten die Beine seiner gesteppten Hosen hinab.
    Weder er noch Pete versuchten zu sprechen. Der Wind kreischte wie ein Ungetüm, das am Jüngsten Tag aus den Tiefen der Hölle gekrochen war. Auch wenn sie aus vollster Lunge gebrüllt hätten, hätten sie einander nicht verstehen können.
    Harry streckte sich auf dem Eis aus, legte sich flach auf den Boden und ergriff das Kletterseil mit beiden Händen.
    Pete bückte sich und gab ihm einen ermutigenden Klaps auf die Schulter. Dann schob er Harry langsam rückwärts, über den Rand, in die Spalte.
    Harry glaubte, das Seil fest gepackt und seinen Abstieg unter Kontrolle zu haben, irrte sich darin jedoch. Als wäre das Tau eingefettet, schlüpfte es durch seine Hände, und er fiel unkontrolliert in den Abgrund. Vielleicht war es die Eiskruste auf seinen Handschuhen, vielleicht der Umstand, daß das Leder weich vor Vaseline war, weil er in den letzten Tagen damit unzählige Male unbewußt sein eingecremtes Gesicht berührt hatte. Jedenfalls war das Tau zwischen seinen Händen wie ein lebender Aal, und er stürzte die Schlucht hinab.
    Eine Eiswand blitzte an ihm vorbei, acht oder zehn Zentimeter von seinem Gesicht entfernt. Auf der

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