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Ekel / Leichensache Kollbeck

Ekel / Leichensache Kollbeck

Titel: Ekel / Leichensache Kollbeck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Girod
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Ausweglosigkeit und Depression des Individuums in der Ausbeutergesellschaft seien. Sie wurden deshalb als besonderes Produkt der Menschenfeindlichkeit des Kapitalismus aufgefaßt und widersprachen den gesellschaftlichen Bedingungen und somit dem Verständnis über das Menschenbild im Sozialismus.
    Vor allem in den 50er Jahren bildete daher die Problematik der Selbsttötung einen Teilgegenstand der propagandistischen Auseinandersetzungen mit dem Kapitalismus. Emsig wurden dazu westdeutsche Suizidstatistiken und Berichte in der Tagespresse über Einzelschicksale genutzt. Die Ursachen für Selbsttötungen wurden schlichtweg darauf reduziert, daß sie Ausdruck des letzten individuellen Aufbegehrens gegen soziale Ungerechtigkeit und Verelendung im Ausbeuterstaat seien.
    Ideologisch führte eine solche einseitige Betrachtungsweise zwangsläufig in eine Zwickmühle: zum einen war die kriminalpolizeiliche Statistik über die vollendeten Suizide ebenso wenig zu leugnen wie die Tatsache, daß die Suizidalität auch in der DDR Ausmaße erreichte, die eine Verstärkung psychotherapeutischer Maßnahmen der Suizidprophylaxe notwendig machte. Zum anderen förderten die in den Folgejahren herangereiften psychologischen, kriminologischen und medizinischen Erkenntnisse einen zaghaften Widerstand der Wissenschaften gegen die starre Simplifizierung und Tabuisierung des Suizidgeschehens im eigenen Land. Denn es war nicht mehr zu verheimlichen, daß auch in der DDR Selbstmordgefährdung und vollendeter Selbstmord, wie in anderen Ländern auch, das Bild einer Gesellschaft mit prägen.
    Gleichwohl führte das überzogene, allgegenwärtige Sicherheitsdenken der in den Fachministerien Zuständigen dazu, öffentliche Diskussionen über die Suizidsituation in der DDR keineswegs zuzulassen. Denn es galt auch für dieses sensible Thema der Grundsatz, dem Klassengegner keinen zusätzlichen Zündstoff für die ideologische Auseinandersetzung zu liefern. Mithin waren nur territorial und thematisch eng begrenzte wissenschaftliche Untersuchungen möglich, denen sämtlich der Stempel des Geheimnisschutzes aufgedrückt wurde. Folgerichtig wurden die Ergebnisse der Öffentlichkeit vorenthalten.
    Das Suizidgeschehen im Sozialismus blieb somit immer ein unaufgearbeitetes gesellschaftliches Phänomen. Selbst in den 70er und 80er Jahren, in denen sich die DDR-Wissenschaften freimütiger als in der Vergangenheit der Lösung der eigenen gesellschaftlichen Widersprüche zuwenden konnten, blieb hinsichtlich des Suizidproblems die aufgezwungene Zurückhaltung weitgehend bestehen. Auch die Tatsache, daß zum Ausschluß von Verbrechen jährlich mehrere tausend vollendete Suizidfälle kriminalistisch untersucht werden mußten, blieb der Öffentlichkeit verborgen.
    Der eigentliche ideologische Grund für die starre Linie, die Erkenntnisse über das Suizidgeschehen nicht publik werden zu lassen, hat vermutlich zwei Seiten:
    Einerseits berührte die Suizidproblematik unmittelbar wichtige philosophische und ethische Fragen des Lebens und des Todes, auf die die marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften ohnehin nur unbefriedigende Antworten parat hatten. Das Bewußtsein des sozialistischen Menschen über sich selbst und die Welt – so vereinfachten sie – vermittele ihm einen solchen inneren Halt, daß schwierige Konfliktsituationen des Lebens anders überstehbar seien als ohne gefestigte marxistischleninistische Weltanschauung. Die Suizidstatistik im Sozialismus aber machte diese These zu einer leeren Phrase.
    Andererseits führten die im Vergleich zur Bundesrepublik nur geringfügig höheren Suizidbelastungsziffern in der DDR zu einer ideologischen Peinlichkeit, denn die Vorzüge des Sozialismus ließen sich am Beispiel der Suizidbelastung keineswegs demonstrieren.
    Immerhin wurden in der DDR im Zeitraum von 1968 bis 1988 durchschnittlich 3 700 vollendete Suizide pro Jahr verübt. Das entspricht einer auf einhunderttausend Einwohner bezogenen Belastungsziffer von 23 Selbstmorden. In der Bundesrepublik lag sie dagegen bei 21. Lediglich Berlin wies höhere Zahlen auf. Das galt aber gleichermaßen für Westberlin (Belastungsziffer 33) wie für Ostberlin (Belastungsziffer 33).
    Doch derlei Zahlenangaben bedürfen eines kurzen Kommentars: Die in der Bundesrepublik einheitlich geltende Rechtsnorm der staatsanwaltlichen Leichenschau (§ 87 STPO) unterstellt der Untersuchungsbehörde diagnostische Fähigkeiten zur objektiven Beurteilung äußerer Befunde an der

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