Ekel / Leichensache Kollbeck
Menschen auf und starren ihn einen Moment lang vorwurfsvoll an. Die Frau hinter dem Tresen wendet sich ihm zu, legt ihren Zeigefinger auf den geschlossenen Mund und zischt freundlich ein leises „Pst!“.
Mit gedämpfter Stimme beantwortet sie nun seine Frage: „Ja, das bin ich.“
„Kennen Sie Katharina Schade“, fragt Rinke kurz.
„Ja, natürlich!“ reagiert die Angesprochene überrascht.
Rinke weist sich aus. Ohne weitere Erklärung lädt er sie für den folgenden Tag zur Vernehmung vor. Um für diese Zeit ihre Freistellung von der Arbeit zu erwirken, übergibt er eine amtlich eigens dafür vorgesehene Karte.
„Worum geht’s denn?“ will Sylvia Wozniak wissen.
„Hier möchte ich darüber nicht sprechen. – Also, morgen im Präsidium!“
Rinke will jetzt nichts preisgeben. Eilig, ohne sich zu verabschieden, verläßt er die akademischen Räume. Verstört und sorgenvoll blickt die junge Frau ihm nach.
Der Besuch des Staatsdieners hat Sylvia Wozniak innerlich aufgewühlt. Bis zum Dienstschluß telefoniert sie in der Gegend herum, um vielleicht von Bekannten zu erfahren, was passiert sein könnte. Erfolglos. Dann der Anruf bei Katharinas Eltern: Sie übermitteln ihr die schreckliche Nachricht. Aber erst zu Hause läßt sie ihrer Betroffenheit und Trauer freien Lauf. In den Armen der Freundin, mit der sie die kleine Wohnung teilt, kann sie sich ausweinen.
Als Sylvia Wozniak am nächsten Tag zur Vernehmung in der 5. Etage des Polizeipräsidiums erscheint, hat sie den tragischen Tod Katharinas einigermaßen verarbeitet. Rinke kann deshalb gleich zur Sache kommen: Ihn interessiert die Beziehung zwischen den beiden Frauen, er ist sich gewiß, so zu den Beweggründen für den Selbstmord zu gelangen. Er beginnt das Gespräch mit der fragenden Behauptung:
„Vermutlich wissen Sie inzwischen, was mit Katharina passiert ist?“
„Ja! Ich habe mit ihren Eltern telefoniert – so ein schreckliches Ende!“ antwortet sie traurig.
„Katharina hat weder einen Abschiedsbrief hinterlassen noch auf andere Weise geäußert, warum sie sich das Leben nehmen wollte. Oder wissen Sie etwas“, will Rinke wissen.
„Nein, mir hat sie nichts mitgeteilt. – Sie war sehr verschlossen. Ich glaube, sie wollte andere damit nicht belasten“, erklärt Sylvia Wozniak. Und als Rinke sie fragend anschaut, setzt sie fort: „Kathi hatte große Probleme mit sich selbst, wollte aber mit niemand darüber sprechen. Schon gar nicht mit den Eltern. Die hätten sie sonst auf der Stelle rausgeschmissen!“
„Haben Sie eine Erklärung für ihren Tod“, fragt Rinke interessiert.
„Ich denke ja, dazu kannte ich sie zu gut. Ich fühle mich ein bißchen mitschuldig an ihrem Tod. Immerhin waren wir …“
Die junge Frau kann den angefangenen Satz nicht beenden, Rinke fällt ihr ins Wort: „Ich mach uns erst mal ’nen Kaffee. Dann erzählen Sie mir alles. Von Anfang an: Wie Sie Kathi kennengelernt haben, worunter sie litt, wie Sie die Beziehung zu ihren Eltern einschätzen und so weiter und so weiter!“
Sylvia Wozniak wiegt nachdenklich den Kopf, als würde ihr eine weitere Erklärung schwerfallen. Doch nach kurzem Besinnen entschließt sie sich: „Einverstanden! Ich werde sagen, was ich weiß!“
Rinke entnimmt seinem Schreibtisch ein kleines Pappschild mit der Aufschrift „Nicht stören! Vernehmung!“ und hängt es an die Außenseite seiner Bürotür. Dann wendet er sich wieder seiner Gesprächspartnerin zu: „Niemand wird uns jetzt behelligen. Also, ich höre!“
Sylvia Wozniak nimmt einen Schluck Kaffee und beginnt: „Also, ich sage es frei heraus: Ich bin lesbisch. Mein Coming-out hatte ich gleich nach dem Abitur. Jetzt lebe ich seit vielen Jahren mit meiner Freundin zusammen in einer gemeinsamen Wohnung. Und wir lieben uns. Allerdings hatten wir uns ungefähr vor zwei Jahren mal so gestritten, daß sie vorübergehend auszog. Ich dachte damals, nun sei es zwischen uns aus. Wochenlang hörte ich nichts mehr von ihr. Bald fiel mir die Bude auf den Kopf. Zu den Lesbentreffs in der Schönhauser Allee hat es mich nicht hingezogen. Aber ich verkehrte regelmäßig im Haus der Jungen Talente, war bald Stammgast bei Lesungen, Auftritten von Liedermachern, Discos und so. Dort lernte ich Kathi kennen. Sie war nett, frisch, intelligent, hatte keinen Freund. Kurz: Sie gefiel mir. Danach sahen wir uns regelmäßig. Bald freundeten wir uns an …“
Hauptmann Rinke unterbricht den Monolog vorsichtig: „Lassen Sie sich nicht stören,
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