Ekel / Leichensache Kollbeck
Schußverletzungen begangen (nahezu ausschließlich durch Männer). Im Vergleich dazu lag der Anteil in der Bundesrepublik bei 7,5 Prozent. Der in der DDR wohl sensationellste Selbstmord durch Anwendung einer Schußwaffe war der Fall des Wirtschaftspolitikers Erich Apel im Jahre 1965 – ein dubioser Vorgang, der sicher längst vergessen wäre, würden die schier unendlichen Spekulationen über die Hintergründe seines Freitodes nicht bis in die Gegenwart reichen
.
In den Abendstunden des 3. Dezember 1965 hält eine schwarze Limousine der Regierung vor einer Villa in einer Nobelgegend des Berliner Stadtbezirks Karlshorst. Der Fahrer öffnet dienstbeflissen eine der hinteren Wagentüren. Ein mittelgroßer, untersetzter 48jähriger Mann mit ernstem Gesicht, in gut sitzendem Anzug, steigt aus und verabschiedet sich eilig, bevor die Edelkarosse sowjetischer Bauart wieder entschwindet. Dieser Mann – kein geringerer als der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission und Stellvertretende Vorsitzende des DDR-Ministerrats und Mitglied des Zentralkomitees – ist der derzeit höchste Wirtschaftspolitiker des Arbeiter- und Bauernstaates und heißt Dr. oec. Erich Apel. Sichtlich erschöpft kehrt er, ein Bündel Akten unterm Arm, nach vollbrachtem Tagwerk heim. Sein ernstes Gesicht verändert sich keineswegs, als ihm beim Betreten des Hauses die Gattin entgegenkommt. Doch die Begrüßung ist kurz, sachlich, nahezu kühl.
„Ich gehe gleich nach oben, habe noch zu tun“, brummt er. Mit der Ankündigung: „Sag Bescheid, wenn du essen willst“, verschwindet die Gattin im großen Wohnzimmer des Erdgeschosses, während er schwer atmend die Treppe zur ersten Etage erklimmt, wo sich sein Arbeitszimmer und das eheliche Schlafgemach befinden. Geräuschvoll landet das Aktenbündel auf seinem Schreibtisch. Frau Apel vermutet, der Angetraute und oberste Wirtschaftsplaner der DDR werde nun bis in die Nachtstunden über seinen Unterlagen brüten. Sie ahnt nicht, daß er einige Zeit gedankenversunken, regungslos am Schreibtisch sitzt, ehe er seine Pistole entsichert und durchlädt. Dann begibt er sich, die Waffe in der Hand, ins Schlafzimmer, legt sich aufs Bett und beendet mit einem gezielten Kopfschuß sein Leben. Sein plötzlicher unnatürlicher Tod löst im SED-Politbüro große Irritationen aus. Die DDR-Presseagentur ADN wird angewiesen, am 5. Dezember 1965 der Öffentlichkeit mitzuteilen, „nervliche Überbeanspruchung und Herz-Kreislauf-Probleme“ hätten eine suizidale Kurzschlußhandlung ausgelöst. Zeitgleich waren die flinken Medien in der Bundesrepublik mit ihrer Version zur Stelle: Apel habe bei der Abstimmung des Volkswirtschaftsplans mit der Sowjetunion heftigen Widerstand gezeigt, sei von der politischen Führungsriege seelisch zermürbt und so in den Tod getrieben worden.
Wenige Tage nach seinem Tod findet ein pompöses Staatsbegräbnis statt. Damit endet die wirtschaftspolitische Ära des Dr. rer. oec. Erich Apel. Sein Amt übernimmt der ehrgeizige und wendige Günter Mittag, der in wenigen Jahren zum zweitmächtigsten Mann der DDR anvancieren wird.
Der Regierende Bürgermeister in Westberlin, Willy Brandt, erklärt kurze Zeit später vor der Presse, Apel sei „nicht schweigend ins Grab gegangen“ und man werde noch erfahren, „was ihn bewegt und besorgt hat“! Seine Äußerungen verfehlen ihre Wirkung nicht: Die Spekulationen schlagen hohe Wellen. Vermutungen werden laut, Erich Apel habe geheime Niederschriften oder gar ein politisches Testament hinterlassen, in denen er mit den führenden Genossen der Partei und des Staates abrechne sowie harsche Kritik an der sozialistischen Planwirtschaft übe. Die DDR-Obrigkeit dementiert derartige Unterstellungen mit der ihr eigenen klassenkämpferischen Diktion.
Anfangs wird die „Leichensache Apel“ durch die Kriminalpolizei untersucht. Sowohl im Ergebnis der gerichtsmedizinischen Sektion als auch nach dem ballistischen Gutachten des Kriminaltechnischen Instituts der Volkspolizei besteht kein Zweifel daran, daß sich Apel selbst getötet hat. Lediglich die motivationalen Hintergründe sind zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausgeleuchtet. Da ein Fremdverschulden aber sicher ausgeschlossen wird, bleiben sie zunächst von sekundärem kriminalistischem Interesse. Dann übernimmt kraft strafprozeßrechtlicher Kompetenz die Untersuchungsabteilung des Ministeriums für Staatssicherheit die weitere Bearbeitung des Vorgangs. Vermutlich führt sie nun die Ermittlungen zum
Weitere Kostenlose Bücher