Ekel / Leichensache Kollbeck
für die Feuerwehr!!! Gasgefahr!!! Ich habe Schluß gemacht, Gott verzeih mir!!! Walter Mangold.“
Aufgeregt läuft sie auf den Hof und blickt hilflos umher. In ihrem Kopf toben die Gedanken: Was mach ich nur? Was mach ich nur? Sie hat eine rettende Idee: Im Vorderhaus wohnen die Pollaks. Er ist Offizier der NVA, und er hat ein Telefon. Hoffentlich ist er nicht im Dienst. Hoffentlich ist überhaupt jemand da. Augenblicke später klingelt sie Sturm an Pollaks Wohnungstür. Sie lauscht. Jemand schlurft über den Korridor. Schlaftrunken und mißmutig steht Herr Pollak höchst persönlich in der Tür. Erst die Nachricht weckt alle Sinne. Doch er gerät nicht aus der Fassung.
„Riecht’s im Haus nach Gas?“ will er wissen. Und als sie das verneint, meint er: „Erst mal sehen, vielleicht brauchen wir keine Feuerwehr. Ich ziehe mir nur was über!“
Pollak hat einen Werkzeugkasten mitgenommen. Mit wenigen Handgriffen öffnet er die Wohnungstür des alten Mangold. Nun breitet sich penetranter Gasgeruch aus. Er betritt die Wohnung. Frau Großkopf folgt ihm aufgeregt und neugierig. Gleich hinter der Wohnungstür, unterhalb des Stromzählers, befindet sich die Gasuhr. Geistesgegenwärtig dreht Pollak den Haupthahn für die Gaszufuhr zu. Dann blickt er sich um: Die Tür zur Küche ist geschlossen. Behutsam öffnet er sie einen Spalt weit. Eine dicke Gaswolke strömt ihm entgegen. Er hält den Atem an und stürmt in die Küche. Der alte Mangold sitzt auf einem Stuhl, den Rumpf schräg nach vorn gegen den Gasherd gebeugt, mit der linken Gesichtshälfte auf dem Herd, dicht neben einem Brenner, aufliegend. Seine Augen sind starr und weit geöffnet, ohne Leben. Der linke Arm hängt schlaff herunter, die gekrümmten Finger berühren den Linoleumfußboden. Der rechte Arm hingegen liegt angewinkelt schräg auf den Oberschenkeln. Pollak erfaßt dieses Bild im Bruchteil einer Sekunde. Zuerst reißt er das Fenster weit auf: Frische Luft dringt von außen herein. Er kann wieder atmen. Frau Großkopf hält respektvoll Abstand zu der schaurigen Szene. Sie glaubt zu erkennen, daß der alte Mangold tot ist. Pollak legt seine Hand auf das Gesicht des leblosen alten Mannes: Es ist kalt, viel kälter als die Temperatur in der Küche. Dann versucht er, den Puls der rechten Hand zu fühlen, doch Mangolds Arm ist starr und unbeweglich. Angewidert läßt er von dem Leblosen ab.
„Kommen Sie! Wir können hier nichts mehr machen“, sagt er zu Frau Großkopf und schiebt die vor Entsetzen zitternde Frau sanft aus der Wohnung. „Ich rufe die VP an!“
Bald darauf erscheinen eine Funkstreife der VP, ein Fahrzeug der Schnellen Medizinischen Hilfe und ein unauffälliger Pkw. Blaulichter blinken, Funksignale ertönen. Uniformierte Männer und solche in weißen Kitteln oder in Anzügen mit Schlips und Kragen entfalten eine Betriebsamkeit, die manchen Hausbewohner für die nächste Stunde ans Fenster lockt.
„Ham’ Se schon jehört, im Seitenflügel, der olle Mangold aus ’m ersten Stock … Alle Tage jing er nach’m Friedhof hin zu seiner Frau. Un nu hat er sich umjebracht!“ ruft man sich von Fenster zu Fenster zu.
In der Tat: Das Leben der letzten Jahre hat Walter Mangold zermürbt. Von arger Arthrose geplagt, fällt ihm das Laufen immer schwerer. Auch die erkrankten Augen verlieren langsam ihre Sehkraft: Ein unumkehrbarer Prozeß führt irgendwann zu ewiger Dunkelheit. Seit dem Tod seiner Frau vor knapp zwei Jahren ist er ein einsamer Mann. Eintönig pendelt jetzt sein Leben zwischen Wohnung und Friedhof. In den eigenen vier Wänden spricht schon lange Zeit niemand mehr mit ihm, nur am Grab seiner Frau kann er sich einem stillen Zwiegespräch hingeben. Der einzige Sohn, der nach dem Abitur 1955 in den Westen ging und schon viele Jahre in den USA lebt, schreibt nur gelegentlich. Besucht hat er die Eltern seit damals nicht mehr.
Der alte Mangold sieht in eine düstere Zukunft. Sein Ende ist vorhersehbar. Er fürchtet sich vor den schlechten Launen des Todes, weiß nicht, ob er Schmerzen und Siechtum für ihn bereithält. Allein die Vorstellung, in einem Altersheim dahinzuvegetieren und auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein, die ihm womöglich den Rest seiner Persönlichkeit nehmen könnten, flößt ihm Angst ein. Nur der selbstbestimmte Tod bewahrt seine Freundlichkeit. Und ein solcher Tod hat nichts Bedrohliches. Im Gegenteil: Er führt ihn um so schneller zu seiner Maria, mit der er nahezu 50 Jahre glücklich zusammen war, mit der er
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