Ekel / Leichensache Kollbeck
Lebensmut sinkt auf den Nullpunkt.
Noch am selben Nachmittag ist sie dann soweit: Sie füttert ihren kleinen Sohn, der inzwischen fast anderthalb Jahre alt ist, windelt ihn, zieht ihm einen neuen Strampelanzug an und legt ihn in das frisch gemachte Bettchen. Dann schließt sie die Vorhänge im Kinderzimmer. Als sie den Raum verläßt, fixiert sie die weit geöffnete Tür durch einen Stapel alter Zeitungen. Dadurch verhindert sie ein selbständiges Schließen. Nachdem sie aus gleichem Grunde einen Staubsauger gegen die geöffnete Küchentür gestellt hat, breitet sie in der Küche vor dem Gasherd eine Federbettdecke auf dem Fußboden aus. Nun öffnet sie alle Brennstellen des Herdes, legt sich nieder und erwartet den Tod. Auch der kleine Hund legt sich brav neben sie.
Als Achim von Canee Stunden später nach Hause kommt, riecht er an der Wohnungstür schon das Gas. Drinnen macht er die furchtbare Entdeckung: Seine Frau Christine, der Sohn und der Hund sind schon lange tot.
Suizide, bei denen andere Personen ohne deren Einverständnis oder Verlangen mit in den Tod genommen werden, stellen statistisch nur eine kleine Gruppe dar. In der DDR lag sie unter 1 Prozent aller Suizide. Kriminologisch und psychologisch werden sie als erweiterte Suizide bezeichnet. Sie sind jedoch von Mord- und Totschlagsdelikten mit nachfolgendem Suizid des Täters abzugrenzen. Ihr wichtigstes Merkmal ist, daß eine ernstgemeinte Selbsttötungsabsicht im Vordergrund stehen muß. Aus dieser resultiert die Überlegung, vor allem sozialabhängige, bedrohte, gefährdete, geliebte Personen (Kinder, Eltern, Ehegatten usw.) nicht allein zurückzulassen. Die Mitnahme in den Tod soll dem geliebten Menschen eine vermeintlich ungewisse Zukunft ersparen. Erbarmen und Zuneigung sind dabei die treibenden Kräfte. Zu ihnen gesellt sich gewöhnlich Haß und Wut auf den Partner, der letztlich als Verursacher für die suizidale Entwicklung angesehen wird und dem die geliebte Person keinesfalls überlassen werden soll
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Beim erweiterten Suizid fehlen folglich die für Mord und Totschlag typischen, die Aggression auslösenden Motive (wie Mordlust, Habgier, Verdeckungsbestrebung, niedere Beweggründe usw.)
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Die meisten erweiterten Suizide in der DDR wurden durch Schlafmittel- und Kohlenmonoxidvergiftung, seltener durch Strangulation begangen. Andere Tötungsarten wie die Schußwaffenanwendung, der Sturz aus der Höhe oder das Ertrinken bildeten absolute Ausnahmen. Der typische erweiterte Suzid wurde durch die Mutter begangen, die ihr Kind mit in den Tod nahm. Erweiterte Suizide durch Männer waren selten
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Nach der Wiedervereinigung Deutschlands hat sich allerdings das statistische Gesamtbild zugunsten blutiger Methoden (insbesondere Erschießen) verschoben. Auch die Beteiligung von Männern hat zugenommen
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Mißlang der erweiterte Suizid, weil die Giftdosis zwar den Mitgenommenen tötete (vor allem durch die geringe Widerstandsfähigkeit von Kleinkindern begründet), nicht aber den Suizidenten, waren strafrechtliche Konsequenzen die Folge. Das DDR-Strafrecht würdigte solche Handlungen nach § 113 Abs. 1 Ziffer 3 StGB als Totschlag unter „besonderen, die strafrechtliche Verantwortlichkeit mindernden Tatumständen“. Entsprachen diese Tatumstände der Schwere der objektiven und subjektiven Konfliktsituation, d.h. der psychischen Zwangslage des Täters, fiel das Strafmaß erheblich geringer aus als bei anderen Totschlagsdelikten. Der Strafrahmen beim Totschlag gem. § 113 StGB war deshalb zwischen sechs Monaten und zehn Jahren Freiheitsentzug weit gespannt
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Fall 3:
Rentner Zeidler schleppt nach seinem Vormittagseinkauf schwere Beutel durch die Toreinfahrt des alten Wohnhauses in der Berliner Schönhauser Allee 73, dem großen, Ende des vorigen Jahrhunderts erbauten Gebäudekomplex mit seinen hintereinander liegenden Höfen.
Mühsam durchquert er den ersten Hof. Sein Ziel ist das zweite Seitengebäude. Dort wohnt er in der vierten Etage. Viele Stufen hoch, doch die Mittagssonne kann sich durch die Häuserschlucht bis in seine Wohnstube zwängen. Bevor er die Haustür erreicht, trifft er auf zwei aufgeregte Nachbarinnen. Sie haben eine wichtige Mitteilung für ihn parat: Im Treppenhaus, auf der zweiten Etage riecht es nach Gas!
Tatsächlich: Auch Rentner Zeidler bemerkt den warnenden Gasgeruch in der zweiten Etage. Hier befinden sich zwei Wohnungen. Er schnuppert geräuschvoll wie ein Jagdhund am Briefschlitz einer der Türen. Dahinter liegt die Wohnung
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