Ekel / Leichensache Kollbeck
sitzt der 32jährige Lokführer, Reichsbahnobersekretär Stefan Wagner, verheiratet, zwei Kinder, wohnhaft in Magdeburg-Cracau. Sein Beimann, ein junger Reichsbahnunterassistent, ist erstmals mit Wagner unterwegs. Des selbständigen Führens von Triebfahrzeugen noch nicht kundig, wird dieser in den nächsten Stunden deshalb Dienstvorschriften, Signalstandorte und Langsamfahrstrecken pauken und dem versierten Lokführer über die Schulter schauen. So macht er sich fit für die bevorstehende Zugführerprüfung.
In Berlin sollen die Männer dann einen Güterzug zurück nach Magdeburg übernehmen. Stefan Wagner rechnet damit, am frühen Nachmittag wieder daheim zu sein. In dem Umstand, daß er Betriebseisenbahner wurde und nun große Züge führen darf, sieht er die Erfüllung eines langgehegten Kinderwunsches. Doch daran erinnert er sich längst nicht mehr. Jetzt will er sich zum Wohlgefallen seiner Vorgesetzten im Güterverkehr bewähren, damit sie ihm irgendwann einmal die Verantwortung für einen großen internationalen Personenzug, wie den „Balt-Orient-Expreß“ oder den „Meridian“, übertragen. So wecken erfüllte Träume immer wieder neue.
Ächzend rollen die stählernen Massen über den Schienenstrang, das Magdeburger Stadtgebiet durchquerend. Vor dem Hauptbahnhof steht das Vorsignal auf Halt, ein verspäteter D-Zug aus Marienborn hat Vorfahrt. Quietschend drücken die Bremsbacken auf die Räder, und es dauert einen Augenblick bis der Zug artig vor dem roten Licht stoppt. Nur die schweren Dieselmotoren tuckern noch im Leerlauf. So vergeht eine reichliche Viertelstunde. Dann erst hebt sich der Signalbalken, der vor dem Hintergrund des grauen Himmels nur als Schattenriß erkennbar ist. Sein grünes Licht gibt freie Fahrt. Langsam setzt sich der Zug in Bewegung, schneller und schneller donnern die Räder über die Gleise. Er passiert erst den S-Bahnhof Neustadt, ehe er hinter der Elbbrücke mit voller Fahrt den Biederitzer Wald durchquert, um dann nordöstlich in Richtung Genthin abzubiegen. Stefan Wagner und sein Beimann richten ihren Blick auf die Strecke, die mit dem erwachenden Morgen immer deutlicher zu erkennen ist. Ihre Unterhaltung ist knapp und beschränkt sich auf dienstliche Angelegenheiten. Erst nach einiger Zeit löst sich die Anspannung: Wagner weist auf seine Thermoskanne, die hinter ihm aus einer abgewetzten Aktentasche lugt und sagt: „Gieß uns mal ’nen Kaffee ein, echter ›Jacobs‹ von meiner Oma!“
Sein Beimann würdigt diese Gunst durch ein nachhaltiges Kompliment, denn Kaffee ist teuer – 125 Gramm „Rondo“ kosten 8,75 Mark – und Westkaffee schmeckt einfach besser. Genüßlich schlürfen die Reichsbahner den heißen Muntermacher. Da bis kurz vor Burg die Strecke schnurgerade verläuft und erst dann das nächste Signal zum Langsamfahren auffordert, bringt Wagner den Zug auf eine Geschwindigkeit von 100 Stundenkilometer. Der stählerne Koloß donnert durch die Bördelandschaft. Plötzlich ruft der Beimann Wagner zu: „Da vorn liegt was!“
Mit höchster Konzentration starrt Wagner auf die Strecke, die einen weiten Blick gestattet. Tatsächlich: Blitzschnell erfaßt er, daß in etwa eintausend Metern Entfernung ein Gegenstand auf der rechten Schiene liegt. Er leitet die Notbremsung ein. Doch die 4 000 PS der Diesellok, ihr Eigengewicht und der ungeheure Schub von 14 vollbeladenen Waggons erfordern einen langen Bremsweg. Bremsen kreischen, Druckluft zischt. Der Gegenstand vor dem Zug wird immer deutlicher: Dort liegt ein Mann, den Hals auf dem kalten Schienenstrang, den Körper lang ausgestreckt auf dem Schotter, im rechten Winkel zur Schiene. Jetzt wird der Zug langsamer. Doch unaufhaltsam nähert er sich dem Liegenden. Schon kann Wagner das Gesicht des Mannes und seine weit aufgerissenen Augen erkennen. Er sieht noch wie der Mann die Augen schließt. Dann ist sein Blick versperrt. Schon folgt ein kaum wahrnehmbares Holpern. Die erste Achse hat ihn erfaßt, denkt Wagner. Sein Gesicht verzerrt sich, als würde er den kurzen Schmerz des Überrollens am eigenen Leib verspüren. Angstschweiß rinnt von seiner Stirn. Er kennt dieses leichte Holpern, hat es in seiner dreijährigen Tätigkeit als Lokführer bereits zweimal hören müssen und weiß, was es damit auf sich hat. Einen Menschen zu überfahren, ist das Schlimmste, was er sich vorstellen kann. Das schafft Ohnmacht und Schlaflosigkeit. Er zittert am ganzen Körper. Sein Beimann ist sprachlos, blaß vor Schreck und für
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