Ekel / Leichensache Kollbeck
abgelegene Gleisabschnitte, seltener das direkte Bahnhofsgelände. Die Betreffenden werden meist liegend (Kopf oder Rumpf auf der Schiene) oder hockend, seltener nach einem Sprung vor den fahrenden Zug (z. B. von der Bahnsteigkante) überfahren
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Das kriminalistisch-gerichtsmedizinische Interesse richtet sich dabei vor allem auf die Frage, ob der Betreffende tot oder lebend auf das Gleis geriet. Ihre Beantwortung ist eine wichtige Voraussetzung für den Ausschluß oder den Nachweis einer möglichen Täterhandlung. Der Nachweis sog. vitaler Zeichen beweist, daß die Überfahrung zu Lebzeiten des Betreffenden erfolgte. Fehlen sie, deutet das immer auf Fremdeinwirkung hin. Aber auch wenn sie vorliegen, ist spurenkundlich und durch die Obduktion zu klären, ob der Betreffende nicht in handlungsunfähigem Zustand auf den Gleiskörper gebracht wurde (z. B. bewußtlos oder gefesselt). Nur so ist eine kriminalistisch exakte Unterscheidung von Suizid, Unfall und Mord möglich. Die Untersuchung von Eisenbahnüberfahrungen zählt zu den schwierigsten Aufgaben der kriminalistischen Todesermittlung
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In der DDR fiel die Untersuchung von Todesfällen im Bahnbereich gewöhnlich in die Kompetenz der Transportpolizei. Doch namhafte Fachleute übten immer wieder Kritik an deren Untersuchungsqualität. Oft führten verkehrsökonomische Erwägungen, die Bahnstrecke schnell wieder freizugegeben, zu einer oberflächlichen Ermittlung. Auch bei Leichenzerstückelungen ging man häufig von der irrigen Annahme aus, auf eine exakte spurenkundliche Tatortarbeit und eine gerichtsmedizinische Sektion verzichten zu können, weil unter diesen Umständen keine nennenswerten Ergebnisse erwartet werden können. So blieb im Vergleich zu anderen Todesermittlungssachen der Einsatz von forensichen Spezialisten weit unter dem üblichen Niveau. Auf diese Weise wurden gravierende Untersuchungsmängel verursacht und gewissermaßen von Amts wegen Gründe für mögliche Straftatenlatenz gesetzt
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Doch diese Probleme sind beileibe nicht nur auf die Situation in der DDR beschränkt. Auch in der Bundesrepublik gilt: Gerade bei Todesermittlungen im Zusammenhang mit Eisenbahnüberfahrungen führen mangelnde Sachkunde und Zurückhaltung bei der Einbeziehung von Experten mitunter zu Untersuchungsfehlern
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Das Schweigen
Kurz vor Mitternacht, an einem Freitag im Juli 1971, Ende eines sonnenreichen, heißen Sommertages. Ein S-Bahnzug aus Richtung Friedrichstraße fährt zischend und polternd in den Bahnhof Alexanderplatz ein. Türen werden geöffnet, Menschen steigen aus und ein. Nur Sekunden dauert die Betriebsamkeit. Dann plärrt die blecherne Stimme des Zugabfertigers durch die Lautsprecher: „Strausberg einsteigen – zurückbleiben!“ Zischend schließen sich die automatischen Türen. Und wieder dauert es nur Sekunden, bis sich das Scheppern des davonfahrenden Zuges im Dunkel verliert. Aufgeregt gestikulierend eilt eine kleine korpulente Frau vom hinteren Bahnsteigende auf den Mann mit der roten Dienstmütze zu und zeigt auf den in die Nacht verschwindenen Zug: „Schnell! Polizei! Halten Sie den Zug an! Da drin ist ein Sittenstrolch!“
Der Mann von der Reichsbahn gibt sich gelassen: „Anhalten? Wie stellen Se sich det vor, jute Frau? Wat meinen Se überhaupt mit Sittenstrolch?“
Die Frau kann sich nicht beruhigen, prustet voller Entsetzen: „Da im letzten Wagen wollte einer Sauereien mit mir machen!“ Der Bahner beruhigt sie: „Na, dann komm’ Se mal mit rin in die jute Stube, da sitzt eener von der Trapo, sozusagen wie bestellt!“ Er führt sie zu dem gläsernen Häuschen der Zugabfertigung. Drinnen schlürft ein Transportpolizist einen Kaffee. Offensichtlich macht er gerade Pause von seinem eintönigen Nachtdienst. Die Luft in dem engen Raum ist voll Zigarettenrauch. Jetzt kann die Frau ihr wichtiges Anliegen vorbringen. Mit knappen Worten schildert sie dem Uniformierten das Erlebnis: Sie sei am Bahnhof Friedrichstraße in den letzten Wagen des Zuges nach Strausberg gestiegen. Ihr gegenüber habe auch ein Mann Platz genommen. Am Bahnhof Marx-Engels-Platz wären zwei ältere Frauen zugestiegen, die sich aber in den vorderen Wagenteil gesetzt hätten. Zunächst sei der Mann ganz unauffällig gewesen, habe lediglich seine Aktentasche auf dem Schoß so merkwürdig verkrampft festgehalten. Plötzlich hätte er leise gezischt und sie dabei angestarrt, um sie auf sich aufmerksam zu machen. Sie hätte sagen wollen, daß sie keine Lust verspürte, sich
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