Ekel / Leichensache Kollbeck
Momente zu keiner Reaktion fähig. Für ihn ist diese Situation gänzlich neu. Endlich: Nach langen Sekunden steht der Zug.
„So eine Scheiße! Nicht schon wieder!“ stöhnt Wagner verzweifelt und klettert mit schlotternden Knien aus der Führerkabine. Sein Kollege folgt ihm, wortlos und mit bleichem Gesicht. Sie sehen den Körper des Mannes auf dem Schotter liegen, direkt zwischen der Lok und dem ersten Waggon.
„Vier Räder sind drüber gerollt“, stellt der Beimann richtig fest. Vorsichtig nähern sie sich. Ihnen bietet sich ein gräßlicher Anblick: Der Körper eines Mannes im Ausgehanzug liegt im rechten Winkel zum Gleis auf dem Schotter. Der linke Arm ist vom Leib bedeckt. Es scheint, als hätte die rechte Hand die Schiene umfaßt, denn sie ist völlig zermalmt. Die schmutzig-grauen Radspuren der Lok, die quer über die Schulter verlaufen, deuten an, daß dieser Bereich briefmarkenplatt zerquetscht wurde. Der Kopf des Mannes liegt mit dem Gesicht auf dem Schotter direkt hinter der Schiene. Der zu einem dünnen Hautschlauch zermalmte Hals bildet mit dem Kopf des Mannes noch ein Ganzes. Hellrotes Blut ist zwischen den Schottersteinen versickert.
„Was machen wir jetzt?“ fragt Wagners Kollege hilflos.
„Lok abkoppeln!“ befiehlt Wagner seinem Beimann und setzt fort: „Ich fahre ein Stück vor, werde über Zugfunk der Fahrdienstleitung Meldung erstatten. Die Strecke muß gesperrt werden. Polizei wird kommen. Vor Mittag werden wir nicht in Berlin sein!“
Um sie abzukoppeln, läuft der Beimann um die Lok herum auf die andere Seite des Gleises. Niemals hätte er gewagt, sich an dem toten Mann vorbeizuzwängen, nur um auf kürzestem Wege die Kupplung zu erreichen.
Nachdem Wagner die Lok eine gute Länge nach vorn versetzt hat, führt er ein Funkgespräch mit dem Dispatcher und meldet das Vorkommnis. Sodann betätigt er das Typhon und gibt mehrmals in schnellem Dreiertakt kurze Töne ab. Die Druckluftsirene dröhnt durch die Stille des Morgens und ist über weite Entfernung zu hören. Es ist das Notsignal der Eisenbahner. Dann ruft er aus dem Fenster der Führerkabine seinem Kollegen zu: „Komm rein! Die Strecke ist gesperrt. Wir müssen warten!“
Jetzt wäre Gelegenheit, Frühstück zu machen. Doch den Männern ist jeglicher Appetit vergangen. Noch einige Male läßt Wagner das Notsignal ertönen. Dann wendet er sich an seinen Kollegen, zeigt in Fahrtrichtung und stellt fest: „Da ist ein Bahnübergang. Von dort werden sie kommen!“
Minutenlang sitzen die Männer schweigend auf ihren Plätzen, hängen ihren Gedanken nach und müssen das unerwartete Geschehen erst verarbeiten. Als wolle Wagner sich selbst beruhigen sagt er plötzlich: „Ein Glück, daß der sich so hingelegt hat!“ Der Beimann versteht nicht, sieht ihn fragend an, und Wagner erläutert seinen Gedanken: „Was meinst du, wie der ausgesehen hätte, wenn er zwischen den Gleisen gelegen hätte. Der wäre über den halben Zug verteilt, Hackfleisch, verstehst du!“ Der Beimann verzieht das Gesicht. Er kann sich die Situation gut vorstellen. Wagner setzt fort: „Im vorigen Jahr habe ich einen Radfahrer überfahren. Besoffen war er. Schiebt das Rad über den Bahnübergang an der geschlossenen Schranke vorbei. So ein Idiot! Ich hatte volles Tempo drauf. Bums, da war’s passiert! Erst einen Kilometer später hielt der Zug. Schrecklich! Die Leichenteile waren auf der ganzen Strecke verteilt! Sowas muß man erst verdauen. Das dauert Monate. Und knapp zwei Jahre vorher hatte ich ….“
Der Beimann unterbricht ihn angewidert: „Hör auf. Es reicht!“ „Schon gut“, lenkt Wagner wieder ein, „aber als Zugführer kann dir das eben passieren. Das muß man erst mal wegstecken können. Du stehst allein mit deinen Problemen, mußt ja gleich wieder auf den Zug! Klar, die oben sagen, das kann jedem mal passieren! Aber was in dir drinnen vorgeht, interessiert keinen!“ Wagners Emotionen schlagen hohe Wogen. In seiner Stimme schwingt eine gehörige Portion Verbitterung mit. Der Beimann bemerkt die Erregung des Zugführers, versucht, die Wogen zu glätten, und fragt: „Gibt’s in solchen Fällen keine psychologische Betreuung?“
Wagner reagiert abwehrend: „Wo denkst du hin! ’n paar Tage krankgeschrieben haben sie mich. Dann wieder rauf auf den Zug! – Kollegen haben mir mal erzählt, ein Lokführer aus Halle ist deshalb durchgedreht, kam in die Klapsmühle. Jetzt ist er Invalidenrentner!“
Dänische Wissenschaftler fanden in den
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