Ekel / Leichensache Kollbeck
ihm bald mitteilen können, daß die Geschwulst in seiner Luftröhre gutartig ist.
Als seine Tochter ihn wenig später nach Hause kutschiert, berichtet er über seine Erlebnisse. Doch ihr fällt ein Umstand auf: Der Anblick der beiden Männer im Warteraum muß ihn innerlich so nachhaltig beschäftigen, daß er deren Zustand ausführlicher und emotionaler beschreibt als seinen eigenen.
An den folgenden Tagen ist Arno Beskow heiter und ausgeglichen. Optimismus und Arbeitseifer sind zurückgekehrt. Gern würde er rauchen. Er unterläßt es. Zu tief sitzt die Angst vor einem schlimmen Ende. Dem leicht blutigen Auswurf, den er bei einer seiner Hustenattacken bemerkt, mißt er keine weitere Bedeutung zu und führt ihn kurzerhand auf die ärztliche Manipulation zurück, durch die vermutlich seine Bronchien beschädigt wurden.
Mit Spannung erwartet er den Termin des nächsten Gesprächs mit seinem Arzt. Doch er kann es nicht glauben, das Ergebnis ist niederschmetternd: Bösartiges Tumorgewebe. Für einen Augenblick fühlt er eine Blutleere im Gehirn, die alles Denken auslöscht. Er ist der Verzweiflung nahe, könnte heulen wie ein Kind. Nur äußerlich gibt er sich erstaunlich ruhig. Der Arzt redet beruhigend auf ihn ein, erläutert die nächsten therapeutischen Schritte. Aber Arno Beskow hört ihm gar nicht zu, nickt nur hin und wieder mit dem Kopf. Seine Gedanken sind ganz woanders: Er muß das Unfaßbare zunächst verarbeiten. Erst als der Arzt sagt: „Wir müssen Sie dann stationär aufnehmen“, konzentriert er sich wieder auf den Gesprächsgegenstand. Er bringt ein Bedenken vor: „Aber mein Betrieb, ich muß meine Abwesenheit erst vorbereiten!“
Der Arzt versteht das Problem und meint: „Gut, melden Sie sich bei mir, wenn sie alles organisiert haben!“
„Und wieviel Zeit habe ich dafür?“ fragt Beskow zaghaft.
„Ich rufe Sie an, wenn ein Bett frei ist. Aber rechnen Sie nicht vor zwei Wochen damit. Nur wenn es Ihnen schlecht gehen sollte, kommen Sie gleich!“
Arno Beskow ist auf seltsame Weise zufrieden: Das Schicksal gesteht ihm noch eine Galgenfrist zu, eine wichtige Zeit, die letzten Dinge seines Lebens zu ordnen. Denn sein Entschluß ist unumstößlich.
Wieder verschweigt er der Gattin die neuen Mitteilungen des Arztes. Er will sie nicht beunruhigen. Er vermutet, daß eine derart schlechte Nachricht sie fix und fertig machen könnte. Ihr Nervenzustand würde ihn vermutlich so belasten, daß er sich nicht auf das konzentrieren könnte, was ihm jetzt wichtig ist. So sucht er lediglich eine günstige Gelegenheit, um behutsam und unauffällig vorzufühlen, wie sie auf seinen Tod reagieren könnte. Nach einigen Tagen lenkt er das Gespräch unbemerkt auf den Tod seiner Mutter, die erst nach zwei Jahren unendlicher Qual und unwürdigen Dahinvegetierens von ihrem schweren Krebsleiden erlöst wurde. Beide erinnern sich an die schreckliche Zeit. Und Arno Beskow ist sehr beruhigt, als seine Ehefrau ihre schlimmen Empfindungen in dem kurzen, aber für ihn wichtigen Gedanken zusammenfaßt: „Wenn sich Mutter damals umgebracht hätte, wie sie’s ja vorhatte, als man den Krebs bei ihr feststellte, wäre ihr und uns vieles erspart geblieben. Ich hätt’s ihr nicht verdenken können!“
Am Abend des gleichen Tages wird Beskow wieder von heftigem Husten durchgeschüttelt. Auch die Brustschmerzen sind stärker geworden. Und erstmals wird ihm bewußt, wie sehr er nach Luft ringen muß, um richtig atmen zu können.
Dienstag, der 26. April 1983. Obwohl das Frühjahr noch fast zwei Monate andauert, herrschen seit Tagen bereits hochsommerliche Temperaturen. Nur die Nächte bringen milde Kühle. Nun dämmert der Morgen, einen weiteren schönen Tag ankündigend. Über dem Stadtteil Magdeburg-Sudenburg liegt immer noch nächtliche Stille. Die fleißigen Bürger liegen meist noch brav im Bettchen, um neue Kräfte für den nächsten sozialistischen Produktionsalltag zu sammeln. Nur auf dem Containerbahnhof ist man emsig bei der Sache: Ein Zug mit vierzehn Waggons Warenladung für Berlin wird zusammengestellt. Die hauptstädtische Versorgung muß gewährleistet sein. So will es die Partei. Denn die bevorzugte Belieferung Berlins ist ein Politikum. Man will ja dem internationalen Tourismus sozialistischen Wohlstand präsentieren.
Pünktlich um 3.45 Uhr verläßt der Zug Nummer Ce 46022 den Bahnhof Sudenburg in Richtung seines Bestimmungsortes, Containerbahnhof Berlin, Frankfurter Allee. Am Bedienungstisch der Diesellok
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