Ekel / Leichensache Kollbeck
längst in der Schule, klingelt es bei Werner Teichmann unerwartetet an der Wohnungstür: Zwei Frauen mit ernsten Gesichtern sind erschienen. „Rat des Stadtbezirks, Referat Jugendhilfe und Heimerziehung“, sagen sie und zeigen ihre Ausweise. Matt und widerstandslos läßt er sie ein. Mit der Bemerkung „Ich bin krank!“ kriecht er schwerfällig in sein Bett zurück. Kritisch beäugen die Frauen jeden Winkel der Wohnung, fertigen Notizen, blicken sich bisweilen vielsagend an und wiegen nachdenklich ihre Köpfe. Dann treten sie an sein Bett und eröffnen ihm, eine soziale Fehlentwicklung des Kindes Benjamin festzustellen, auf die staatlicherseits korrigierender Einfluß genommen werden muß. Vernachlässigung und mangelnde Aufsicht seien die Gründe, ihm das Sorgerecht zu entziehen. Er werde daher in den nächsten Tagen von dem Beschluß der zuständigen Organe offiziell in Kenntnis gesetzt. Nach dieser Mitteilung verlassen ihn die Vertreterinnen der Staatsmacht.
Werner Teichmann fühlt sich hilflos und schwach. Wieder kreisen die Gedanken um das Thema der Selbstvernichtung. Nun erstickt jeder innere Aufschrei seines Gewissens unter der krankhaften Verstrickung aus irrsinniger Angst vor der Zukunft, quälendem Mißtrauen und alles durchdringendem Weltschmerz. Sein Entschluß steht fest: Er will nicht mehr leben. Und er will es auch nicht zulassen, daß Benjamin den Rest seiner Kindheit in einem staatlichen Heim verbringt.
Ab 2. September bleibt der Platz des Schülers Teichmann in der Klasse 4 b einige Tage unbesetzt. Klassenkameraden vermuten, Benjamin sei erkrankt. Deshalb wollen sie ihn besuchen und sich nach seinem Wohl erkundigen. Doch sie läuten vergeblich an der Wohnungstür. Niemand öffnet. Eines der Kinder späht durch das Schlüsselloch und macht eine merkwürdige Entdeckung: Der hell erleuchtete Korridor gibt den Blick frei auf die nackten Beine eines Mannes. Die Füße stecken in Pantoffeln. Schlaff und unbeweglich hängen sie herab. Es scheint, als würde der Körper eine Handbreit über dem Fußboden schweben. Erst nach einigen Augenblicken des Hinsehens wird dem Kind die Ursache klar: „Da hängt ja einer!“ stellt es bestürzt fest. Die Kinder schlagen Alarm. Hausbewohner informieren die Polizei.
Die von innen verriegelte Wohnungstür muß gewaltsam geöffnet werden. Mit einem Strick um den Hals hängt Werner Teichmann leblos auf dem Korridor. Sein Leichnam ist noch nicht gänzlich ausgekühlt. Der Todeseintritt dürfte demnach nur kurze Zeit zurückliegen. Am rechten Unterarm, dicht über dem Handgelenk, fallen mehrere parallel verlaufende, teilweise tief ins Gewebe reichende Schnittverletzungen auf. Zwischen Brustbein und Bauchnabel befinden sich einige tiefe Stichverletzungen mit leicht aufwärts verlaufenden Wundkanälen. Der Tod aber wurde durch die Strangulation beim Erhängen verursacht.
Benjamin Teichmann liegt tot in seinem Bett, um den Hals ein fest verknotetes Drosselwerkzeug. Er muß bereits vor Tagen getötet worden sein. Untrügliches Kennzeichen dafür sind die fortgeschrittenen Verwesungserscheinungen.
Auf einem Tisch sind Personaldokumente Werner Teichmanns und ein eilig geschriebener Zettel mit der Anschrift seiner Tochter bereitgelegt. Irgendwo auf dem Linoleumfußboden steht eine Plasteschüssel, deren Boden mit einer Blutlache bedeckt ist. Daneben liegt ein blutverschmiertes Küchenmesser. Überall sind Spritzer leicht angetrockneten Blutes verteilt.
Ein Kriminalist des Sachgebiets „Todesermittlungen“ untersucht den Tatort, beantragt die gerichtliche Sektion beider Leichen und führt Ermittlungen zur Persönlichkeit Werner Teichmanns. Bald steht fest, daß Werner Teichmann sich die Schnittverletzungen am rechten Handgelenk ebenso selbst zugefügt hat wie die tiefen Stichwunden im Oberbauch. Auch der Faserabrieb, die Knotenführung am Strangwerkzeug und die Spuren an Teichmanns Handinnenflächen schließen eine Fremdeinwirkung aus. Nach zwei Wochen können die Ermittlungen abgeschlossen werden. Werner Teichmann, der sich in einer schwerwiegenden, krankheitsbedingten, psychischen Ausnahmesituation befand, hat sich das Leben genommen, vorher aber seinen Sohn Benjamin getötet, um ihn nicht allein zurückzulassen.
„Vollendeter erweiterter Suizid“, so bezeichnet man dieses Geschehen im Fachjargon. In der polizeilichen Einstellungsverfügung heißt es: „Von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen Werner Teichmann wegen vorsätzlicher Tötung seines
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